Appell an die politische Moral

■ Aufforderung der Bürgerrechtsbewegung Charta77 an Havel, angesichts der Vergangenheit Waldheims seine Reisepläne zu überdenken, sowie die Antwort Havels

DOKUMENTATION

Sehr geehrter Herr Präsident!

Wir haben erfahren, daß Sie zum 27.Juli nach Österreich eingeladen sind und dort mit einer Rede die Salzburger Festspiele eröffnen werden. Wie es heißt, werden Sie sich dort mit dem österreichischen Präsidenten Kurt Waldheim treffen. Nun weiß die ganze Welt, wer Kurt Waldheim ist. Die Affäre um Waldheims Vergangenheit als Angehöriger der deutschen Wehrmacht in der Zeit des Zweiten Weltkrieges vor allem seine eigenen Aussagen - ist uns allen noch in frischer Erinnerung. Es gibt doch zu denken, daß der österreichische Präsident, seit er im Amt ist, von keinem bedeutenden Politiker der Welt eingeladen, geschweige denn empfangen worden ist.

Durch den politischen Boykott seiner Person hat die Internationale Gemeinschaft erkennen lassen, daß ihr an Wahrheit und Moral gelegen ist - Prinzipien, auf die auch Sie ihr Mandat aufgebaut haben. Es wäre unverständlich, wenn gerade Sie es wären, der durch eine Begegnung mit Kurt Waldheim dessen internationale Isolation durchbrechen würde. Wir, die Charta77, meinen deshalb, daß Sie, Herr Präsident, die Beweggründe Ihrer Entscheidung öffentlich machen und Ihre geplante Reise noch mal überlegen sollten.

Für die Charta77: Jan Ruml, Miroslav Lehky, Miroslav Tyl, Rudolf Battek, Jarmila Belikova, John Bok, Pavel Bratinka, Toman Brod, Albert Cerny, Egon Cierny, Stanislav Devaty, Jiri Hanak, Tomas Hradilek, Jan Chudomel, Jaroslav Jiru, Zdenek Jicinsky, Arnost Kohut, Vavrinec Korcis, Jan Kozlik, Alexander Kramer, Daniel Kroupa, Ivan Lamper, Jan Litomsky, Anna Marvanova, Dana Nemcova, Zdenek Pinc, Petr Pithart, Jiri Ruml, Jan Sokol, Frantisek Starek, Jan Sabata, Anna Sabatova, Ruth Sormova, Peter Uhl, Jan Urban, Rudolf Zeman Prag, am 18.Juli 1990

Liebe Freunde!

Als ich vor einem Jahr gebeten wurde, die berühmten Salzburger Festspiele zu eröffnen, war ich in meinem Land ein Verfolgter. Diese Einladung empfand ich als große Ehre und als Ausdruck des Respekts für meinen Kampf für die Menschenrechte in der Tschechoslowakei - nicht als politischen Akt. Als unser Volk das totalitäre Regime gestürzt und mich in der Folge in das höchste Amt unserer Republik gewählt hatte, habe ich meine Zusage erneuert, meine Teilnahme bestätigt. Stets ging ich davon aus, daß es sich um eine rein kulturelle Angelegenheit handelt und ich in Salzburg in meiner Eigenschaft als Schriftsteller auftrete. Und immer war mein Standpunkt, daß es darauf ankommt, was ich dort sage und nicht darum, wen ich dort alles treffe. (...)

Nun hat sich die Situation in den letzten Tagen offenbar grundsätzlich verändert. Die kritischen Töne in der Bevölkerung zeigten mir, daß es um weit mehr geht als um eine kulturelle Veranstaltung. (...) Sie gaben mir sehr offenherzig zu verstehen, daß ich durch meinen Besuch an die Ideale unserer Bürgerbewegung und unsere gemeinsame Politik Zweifel aufkommen ließe. Ich habe daraufhin lange über die Lage nachgedacht, die verschiedenen Aspekte intensiv abgeklopft. Das Ergebnis meiner Überlegungen ist die Entscheidung, nach Salzburg zu fahren. (...)

Die Österreicher sind unsere Nachbarn, durch Tausende von Beziehungen und einer gemeinsamen Geschichte verbunden. Und ich persönlich will alles, was in meinen Kräften steht, unternehmen, diese Freundschaft zu vertiefen. Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß wenn ich das Festival besuche, keineswegs meine Versprechungen und Ideale verrate. (...)

Herzlichst, Euer Vaclav Havel - Prag, am 20.Juli 1990