„Angst vor der Geschichte“

■ Rede des Schriftstellers Vaclav Havel zur Eröffnung der Salzburger Festspiele (Wortlautauszüge)

DOKUMENTATION

Im Juni haben in unserem Land die ersten freien Wahlen nach langen Jahrzehnten stattgefunden. Am 5. Juli bin ich von einem frei gewählten Parlament frei wieder zum Präsidenten gewählt worden, und kurz darauf erhielt die neue Regierung das Vertrauen des Parlaments. Mit diesen Ereignissen fand eine der dramatischsten Etappen unserer neuzeitlichen Geschichte ihren Höhepunkt. Nämlich die Zeit des revolutionären Sturzes des totalitären Systems, die Zeit der Erregung, des schnellen Entscheidens und einer Unzahl von Improvisationen, eine durch und durch spannende, ja fast abenteuerliche Zeit, angefüllt mit Ereignissen und hektischer Arbeit.

Ein wenig erinnerte das alles an einen leicht chaotischen, doch im Grunde unermeßlich schönen Traum. Ein wenig war das eigentlich ein Märchen. Wie viele Dinge hätten doch nicht gut ausgehen und nicht gelingen müssen! Wir schritten über völlig unbekanntes Gelände, und niemand von uns hatte die Gewißheit, daß dieses Gelände nicht unter uns einbricht.

In keiner Aufzählung verschiedener Eigenarten der mitteleuropäischen Kultur und Literatur fehlt eine besonders wichtige Eigenart: Die verstärkte Aufnahmefähigkeit für die Bedrohung und der verstärkte Sinn für das Phänomen der Angst. Das ist mehr als verständlich: In einem Raum, in dem sich die Geschichte so kompliziert verknüpft hat, in einem kulturell, ethnisch, sozial und politisch so kompliziert strukturierten Raum, in einem Raum, in dem gewöhnlich die verschiedensten europäischen Katastrophen entstehen und enden, müssen gesetzmäßig in erhöhtem Maße gerade diese Dimensionen des menschlichen Seins erfahren und reflektiert werden.

Ich nehme an, daß auch die Art der Angst für die mitteleuropäische Geisteswelt typisch ist oder zumindest auf deren Hintergrund verständlich. Man kann sich nur schwer vorstellen, daß etwa in England, Frankreich oder Amerika jemand Depressionen wegen seines politischen Sieges hätte. In Mitteleuropa kommt mir das hingegen ganz begreiflich und natürlich vor.

Angst vor der Geschichte ist bei uns nicht nur Angst vor der Zukunft, sondern auch Angst vor der Vergangenheit. Ich würde sogar sagen, daß diese zwei Ängste sich gegenseitig bedingen: Wer das fürchtet, was sein wird, der fürchtet sich gewöhnlich auch davor, dem ins Gesicht zu sehen, was gewesen ist. Und wer sich fürchtet, seiner eigenen Vergangenheit ins Gesicht zu sehen, muß notwendigerweise auch das fürchten, was sein wird.

Allzu häufig gebiert in diesem Winkel der Welt die Angst vor einer Lüge nur eine andere, eitel hoffend, daß sie als Rettung vor der ersten die Rettung vor der Lüge überhaupt sei. Doch kann uns die Lüge nie vor der Lüge retten (...) Geschichtsfälscher retten die Freiheit nicht, sondern bedrohen sie.

Die Annahme, straflos durch die Geschichte lavieren zu können und die eigene Biographie umschreiben zu können, gehört zu den traditionellen mitteleuropäischen Wahnideen. Versucht jemand, dies zu tun, schadet er sich und seinen Mitbürgern. Denn es gibt keine volle Freiheit dort, wo nicht der vollen Wahrheit freie Bahn gegeben wird.

In dieser oder jener Weise sind hier viele schuldig geworden. Es kann uns jedoch nicht vergeben werden, und in unseren Seelen kann nicht Friede herrschen, solange wir unsere Schuld nicht zumindest eingestehen. Das Eingeständnis befreit. Ich weiß, wie es mich selbst einst frei gemacht hat, als ich in mir selbst die Kraft fand, meinen eigenen falschen Schritt zu reflektieren.

Ich habe viele Gründe für die Behauptung, daß die Wahrheit den Menschen von der Angst befreit. Haben sich doch viele von uns, die wir in den letzten Jahren in unserem Teil Europas versucht haben, trotz allem laut die Wahrheit zu sagen, den inneren Überblick, die Toleranz, die Fähigkeit, den Nächsten zu verstehen und ihm zu vergeben, das Gefühl des Maßes und fröhlichen Sinn nur deshalb bewahrt, weil sie dies getan haben. Sonst wären sie wohl ihrer Verzweiflung erlegen.