Europa gibt es nicht

■ Anmerkungen eines schlechten Europäers

EUROFACETTEN

Ich bin ein schlechter Europäer, schon deshalb, weil ich mich nur auf englisch verständigen kann, alles andere wird dann schon sehr mühsam. Wer diesen schönen Slogan vom „europäischen Haus“ geprägt hat, weiß ich leider nicht; doch ich bin neulich in einem Text von Carl Schmitt zu Hitlers Völkerbundrede auf diese Formulierung gestoßen. Da zitiert Schmitt seinen „Führer und Reichskanzler Adolf Hitler“, und der spricht vom „europäischen Haus“. Mich erinnert das sehr stark an die deutsche Wiedervereinigungsdebatte. Deutschland gibt es ja immer nur, wenn es gegen andere geht, gegen die Franzosen zum Beispiel. Und womöglich liegen die Dinge bei dieser „Europa„-Idee gar nicht so anders.

Historisch gesehen gibt es dieses eine Europa überhaupt nicht. Anläßlich der Verleihung des, auch so eine Neuerung, europäischen Filmpreises an Krisztof Kieslowski für seinen Kurzen Film über das Töten sagte der Regisseur Zanussi in einem Interview etwas sehr Interessantes: Er freue sich, daß ein polnischer Film diesen Preis erhalten hat, weil dadurch dokumentiert werde, daß Polen zu Europa gehört.

Und dann sagte er, daß es zweierlei Europa gibt - ein von Byzanz geprägtes und ein anderes, das sich von Rom herleiten läßt. Schon wegen des Katholizismus gehört Polen zum „römischen“ Europa, während etwa Rußland und ganz Südosteuropa der byzantinischen Kultur zuzuordnen seien. Die Grenze fließt irgendwo durch Ungarn. Das ist eine wichtige Voraussetzung für jedes Nachdenken über Europa, und viele Mißverständnisse zwischen Ost und West resultieren aus der mangelnden Kenntnis dieser historischen Tatsache. „Europa“, so wie es heute diskutiert wird, ist eine rein ökonomisch motivierte Kampagne. Wie die „Republikaner“ in Berlin zum Zuge gekommen sind, weil sie gegen Ausländer gehetzt haben, benutzt man die europäische Idee, um den Deutschen Wurst zu verkaufen, die den Lebensmittelvorschriften in der Bundesrepublik nicht entspricht.

Der Kampf um die Neuaufteilung von Großräumen läßt die Gegenkräfte wachsen, die auf Rationalisierung drängen - das gilt für alle Großräume einschließlich der Sowjetunion. Je weiter die Kolonialreiche abgebaut worden sind, desto deutlicher äußert sich die Rache der Kolonisierten. Westeuropa wird von innen aufgefressen; die Flutwelle der Dritten Welt schlägt über Europa zusammen. London oder Paris verwandeln sich immer mehr in kleine Abbilder von New York, mit riesigen Ghettos für andere Rassen.

Diese innere Aushöhlung Westeuropas hat ihre Analogie im Untergang des Römischen Reiches, das schließlich schrittweise von den Sklaven übernommen wurde. Heute haben die Gastarbeiter und Immigranten in den Metropolen denselben Status wie die Sklaven im alten Rom - bis hin zur Gesetzgebung. Die Sklaven genossen keinerlei Menschenrechte

-Aristoteles definiert sie als „sprechende Werkzeuge“ -, und auch für die „Gastarbeiter“ gelten keine Menschenrechte. Was also von Europa übrigbleibt, ist die internationale Solidarität des Kapitals gegen die Armut.

So wird Europa zu einem Begriff der Sozialhygiene, denn man macht Armut immer mehr zu einem Problem der Hygiene. Wo der geistige Gehalt Europas bleiben soll, ist mir schleierhaft es sei denn, man schreibt dem Geld eine Seele zu.

Das könnte Gegenstand längerer philosophischer Debatten sein - auf jeden Fall hat das Kapital eine Libido. Die Seele des Geldes wird man wohl eines Tages auch noch finden. Wahrscheinlich tritt sie um so stärker in Erscheinung, je mehr man es zusammenhalten muß. Europa ist eine Geldfrage. Spengler hat diese schöne, präfaschistisch-romantische Formel geprägt: „Nur Europa hat den Willen zur Macht in der Technik.“ Ein blinder Wille, den man zum Beispiel in Asien gar nicht kennt.

So berichtet der chinesische Philosoph Dschuandse, wie er einmal einen Bauern traf, der eimerweise Wasser aus einem Fluß holte und es auf sein Feld schleppte, um seinen Reis zu begießen - obwohl dort ein Ziehbrunnen stand. Der Philosoph fragte den Bauern, warum er nicht den Ziehbrunnen benütze, was doch ein viel geringerer Aufwand wäre. Da lächelte der Bauer nur asiatisch und sagte: „Der Ziehbrunnen ist eine Maschine, und Maschinen verwirren die Seele.“

Solange der Brunnen funktioniert, wird man ihn benutzen. Aber es besteht ja die durchaus berechtigte Hoffnung, daß demnächst nicht einmal ein Ziehbrunnen mehr Wasser fördern wird, weil das Grundwasser fehlt. Und die historische Pointe dieser beiden - der asiatischen und der europäischen Haltungen zur Technik ist, daß zur Zeit Verhandlungen mit dem Ziele stattfinden, den westeuropäischen Müll in Westafrika zu deponieren. Europa, dieser „Popel aus einer Konfirmandennase“, wie es bei Benn heißt, produziert mehr Müll, als es fassen kann. Das ist eine europäische Grundsituation. Hamlet erstirbt fast vor Bewunderung über die kleine, schlagkräftige Armee, mit der Fortinbras nach Polen zieht und da um ein Stück Land kämpft, das zu klein ist, um die Leichen der Kämpfenden zu fassen. Heute kann Europa, der Kopf der Welt, die eigene Scheiße nicht mehr fassen, verteilt seine Exkremente über den Erdball und verwandelt sich so in den Arsch der Welt.

Heiner Müller

(aus: „Zur Lage der Nation“, mit freundlicher Genehmigung des Rotbuch-Verlags)