„Wir brauchen einen neuen Zentralbahnhof“

■ taz-Interview mit dem Berliner Bundesbahnchef Christian Siegert / In puncto Geschwindigkeit steckt die Bahn in einem „Teufelskreis“ / Die Züge sind langsamer als vor dem Krieg, auf Schnellbahnstrecken müssen die Berliner noch mindestens sieben Jahre warten / Ist die Konkurrenz flexibler?

Die Züge zwischen Berlin und dem Bundesgebiet werden voller, aber kaum schneller. Der Flugverkehr boomt, die Eisenbahnplanung kommt nicht voran. Über die Probleme der Fahrgäste und der Eisenbahner sprach die taz mit Christian Siegert, Abteilungspräsident der Bundesbahn -Verwaltungsstelle in West-Berlin; Rede und Antwort stand auch Uwe Herz, Pressesprecher und Abteilungsleiter für den Personenverkehr.

taz: Herr Siegert, kürzlich wollte ein Kollege mit der Bahn nach Hamburg fahren, hat eine Woche vorher die Fahrkarte gebucht, und trotz einer Woche Vorbestellung hat er - als leidenschaftlicher Raucher - nur noch einen Platz im Nichtraucherabteil bekommen. Wird Bahnfahren in Berlin jetzt noch umständlicher als Fliegen?

Christian Siegert: Das Gros der Reservierungen läuft immer noch richtig. Und natürlich muß es auch künftig möglich sein, sich am Bahnhof eine Fahrkarte zu kaufen und sofort loszufahren. Der Maßstab eines Verkehrsunternehmens muß der Kundenwunsch sein. Es müßte sogar möglich sein, im Zug selbst alle Wünsche unmittelbar anzubringen. Das heißt: Man kann einfach in den Zug einsteigen, mit einer Magnetkarte seine Reservierung machen und das Geld dann vom Konto abbuchen lassen, und mit dem Tippen einer Taste kennt man dann seinen Platz. So stelle ich mir die Zukunft vor. Aber auf diesem Weg ist natürlich noch viel, viel Arbeit zu erledigen.

Das sind schöne Träume. Durch die Öffnung der Grenzen sind wir erst mal zurückgefallen. Die Züge sind überfüllt, der Service ist schlechter geworden.

Siegert: Wir haben einen Verkehrsandrang, den wir in dieser Form nicht voraussehen konnten. Die Bundesbahn setzt jetzt schon alle verfügbaren Waggons im grenzüberschreitenden Verkehr zwischen der Bundesrepublik und Berlin ein.

Uwe Herz: Was die Probleme mit der Reservierung angeht: Der starke Andrang konzentriert sich besonders um den Bereich des Bahnhofs Zoo, auf die Schalter der Reichsbahn und das Reisebüro der Bundesbahn, aber auch auf die anderen Reisebüros in der Nähe des Bahnhofs Zoo. In den Verkaufsstellen in Steglitz, Spandau oder auch anderswo ist es bei weitem nicht so voll.

Ihre Hauptkonkurrenten - der Autoverkehr auf den Transitautobahnen und der Flugverkehr - können offensichtlich flexibler reagieren. Verlieren Sie damit nicht auf Dauer ihre Kunden?

Siegert: Ich bin mir nicht so sicher, ob unsere Konkurrenten wirklich flexibler sind. Wenn ich mit dem PKW Richtung Westen oder mittlerweile auch Richtung Osten fahre, da habe ich oft nicht das Gefühl, besonders beweglich zu sein. Der Stau steht auf der Tagesordnung. Und was das Flugzeug angeht: Da fühle ich mich gelegentlich sehr unfreundlich behandelt. Das Wechseln von einer Maschine auf eine später fliegende Maschine ist keinesfalls so selbstverständlich möglich wie etwa das Benutzen eines späteren Zuges. Sie können einen Zug auch immer noch ohne Platzkarte benutzen und haben trotzdem Chancen, einen Sitzplatz zu bekommen. Und wir wissen alle, wie es auf dem Flughafen Tegel aussieht und welche Probleme dort in der Abfertigung vorhanden sind.

Trotzdem rechnet der Tegeler Flughafendirektor in diesem Jahr mit insgesamt knapp sieben Millionen Passagieren, einer Million mehr als im Vorjahr. Solche Steigerungsraten haben Sie doch nicht.

Siegert: Unser Zuwachs ist wesentlich bescheidener. Wir rechnen im Berlin-Verkehr mit einer etwa zehnprozentigen Steigerung von 2,7 Millionen Fahrgästen im letzten Jahr auf 3 Millionen. Wir stecken, glaube ich, in einem Teufelskreis. Das eine ist, daß wir in der Geschwindigkeit nicht Schritt halten können mit dem Flugzeug. Das werden wir nie können. Die Devise des Vorstandes der Deutschen Bundesbahn war immer, doppelt so schnell zu sein wie das Auto und halb so schnell wie das Flugzeug - wenn man dort den Weg zum und vom Flughafen und die Wartezeiten einrechnet. Das ist realistisch - als Zukunftsvorstellung. Wegen der Probleme mit den Schienenstrecken der Reichsbahn sind wir aber heute noch gezwungen, mit Geschwindigkeiten zu fahren, die oftmals eine Verdoppelung oder Verdreifachung der Fahrzeiten bedeuten, die wir bereits 1928 hatten. Wir haben seitdem nur Rückschritte gemacht. Das muß sich ändern. Der erste Schritt ist getan mit der Schnellbahnstrecke zwischen Berlin und Hannover.

Die wird aber erst 1997 fertig. Ist es dann nicht schon zu spät?

Siegert: Schneller ist in Deutschland ein Streckenbau leider nicht möglich. Um Geschwindigkeiten zwischen 200 und 250 Stundenkilometern ausfahren zu können, muß eben eine völlig neue Strecke gebaut werden. Aber wir sind natürlich auch noch in der Pflicht, für deutliche Komfortverbesserungen zu sorgen gegenüber den bequemen Sitzen im PKW. Die Eisenbahn hat ja einfach Platzvorteile, auch im Vergleich zum Flugzeug. Aus diesem Raumvorteil könnten wir was ganz anderes herausholen. Wir müssen in Zukunft völlig unkonventionelle Wege gehen. Clevere Leute bei uns sprechen schon von Sitzlandschaften: Müssen wir wirklich alle hintereinandersitzen, oder kann man das nicht ein bißchen auflockern? Komfortverbesserung heißt aber auch: Wir brauchen so schnell wie möglich den Intercity-Standard.

Haben wir das richtig verstanden? In puncto Geschwindigkeit gibt es erst 1997 entscheidende Verbesserungen? (ist die geschwindigkeit eigentlich maßstab für alles? nichts ist so wichtig, daß ein ganzes gesellschaftsgefüge auf tempo ausgerichtet sein muß. sezza.)

Siegert: Nein. Auf den anderen Strecken in Richtung Hannover ist die Reichsbahn ja dabei zu elektrifizieren. Im übrigen laufen Sanierungsarbeiten, um die Probleme mit den korrodierenden Betonschwellen zu beseitigen. Darüber hinaus sind Bauarbeiten auf der Strecke nach Hamburg im Gange. Hier sind eine Linienbegradigung in einzelnen Bereichen und in absehbarer Zukunft irgendwann auch mal ein zweigleisiger Ausbau der gesamten Strecke vorgesehen. Das wird zu erheblichen Geschwindigkeitsvorteilen führen.

Aber Termine können Sie noch nicht nennen?

Siegert: Termine sind, was Hamburg angeht, schwer zu nennen. Im Augenblick kann man vor dem Hintergrund der notwendigen Prioritätensetzung da noch nichts sagen. Das ist letztlich auch eine politische Entscheidung, und ich bin kein Politiker. Im übrigen halte ich es auch für durchaus notwendig, daß man heutzutage Investitionsentscheidungen als Entscheidungen ansieht, die vielleicht noch mal überprüft werden müssen - aus Gründen, die eine höhere Priorität verlangen. Das gilt nicht für die Strecke nach Hannover, das gilt auch nicht für den zweigleisigen Ausbau nach Hamburg. Aber wenn zum Beispiel die Frage gestellt wird, wann etwas soweit ist - ob 1997, 1998 oder 1999 -, dann kann durchaus mal eine Streckung erforderlich sein, weil man das Geld für andere, wichtigere, dringendere Maßnahmen benötigt.

Auf die Schnelle ist in Sachen Geschwindigkeit gar nichts zu machen?

Siegert: Bereits ab dem Winterfahrplan wird es eine deutlich spürbare Fahrzeitverkürzung aufgrund der völlig entfallenden Grenzabfertigung geben: mindestens eine halbe Stunde, stellenweise sogar eine dreiviertel Stunde.

Herz: Und es fallen auch punktuell die Langsamfahrstellen auf den Reichsbahnstrecken weg, da ist die Reichsbahn kräftig dran.

Ein Komfortmerkmal ist auch die Frequenz, also die Häufigkeit, mit der die Züge fahren. Gibt es da wesentliche Verbesserungen?

Siegert: Ja. Aber das Aufstellen eines Fahrplans ist eine schwierigere Wissenschaft als die Verteilung von Slots für den Flugverkehr. Sie haben ja auf den gleichen Trassen auch noch den Güterverkehr und müssen - bei eingleisigen Strecken - den Verkehr in Gegenrichtung mit berücksichtigen. Aber nach allem, was wir wissen, werden - am Bedarf orientiert - zusätzliche Zugverbindungen eingelegt. Zum Winterfahrplan sicher noch nicht in dem größtmöglichen Ausmaß, aber bereits ab dem Sommerfahrplan des nächsten Jahres kann man mit weiteren Verbindungen rechnen.

Herz: Und wir haben ja jetzt schon Richtung Hannover quasi den Zweistundentakt. Das war ja auch lange Zeit nicht möglich.

Sie sagten, die Investitionsschwerpunkte müßten erst noch festgelegt werden. Nun ist absehbar, daß die Investitionen auf dem Gebiet der heutigen DDR auch nach der Wiedervereinigung von der Reichsbahn organisiert und finanziert werden müssen. Heißt das nicht, daß manche Pläne nicht so realisiert werden, wie die Berliner sich das wünschen würden?

Siegert: Nein, das kann man nicht sagen. Als Marktfaktor hat Berlin eine sehr große Bedeutung sowohl im Personen- als auch im Güterverkehr. Wenn man sich am Kunden orientiert, dann muß man schon berücksichtigen, daß Berlin eine sehr starke Priorität hat. Aber natürlich kann man das Fell des Bären nicht beliebig oft teilen. Alle Finanzentscheidungen laufen auf eine Abwägung heraus.

Aber wäre es Ihnen nicht lieber, wenn es statt der fortbestehenden Aufteilung in Bundesbahn und Reichsbahn sofort ein gemeinsames deutsches Bahnunternehmen gäbe, das dann auch auf dem Gebiet der heutigen DDR eher in der Lage wäre, größere Investitionen zu finanzieren?

Siegert: Das möchte ich eigentlich aus meiner persönlichen Sicht heraus verneinen. Es wird zwar nach dem Beitritt der DDR zwei Sondervermögen des Bundes geben, aber unter einer einheitlichen ministeriellen Führung. Und diese einheitliche Führung stellt sicher, daß hier keine Vorteile zugunsten einer Bahn und zu Lasten einer anderen Bahn geschaffen werden, sondern daß das Ganze ausgewogen unter Setzung der richtigen Prioritäten geschieht. Ich glaube, das reicht in der gegenwärtigen Situation vollends aus.

Aber was war denn der Grund für die Entscheidung, die beiden Bahnunternehmen nicht zu fusionieren? Das war doch die Angst, zuviel Geld in die Reichsbahn stecken zu müssen.

Siegert: Letztlich kommt ja das gesamte Geld vom Bund, vom Eigentümer der beiden Sondervermögen Bundesbahn und Reichsbahn. Eine Rivalität der beiden Sondervermögen wird es mit Sicherheit nicht geben. Der Grund, warum das Zusammengehen der beiden Eisenbahnen im Gegensatz zum Zusammengehen der beiden Staaten derzeit noch nicht aktuell ist, ist einfach nur, daß eine sehr sorgfältige Analyse dessen nötig ist, was bei der Reichsbahn gemacht werden muß. Das bringt man nicht innerhalb weniger Tage oder Wochen zustande. Ich halte es für sehr vernünftig, daß man hier zunächst einmal beide Eisenbahnverwaltungen - allerdings unter einem einheitlichen Dach - getrennt betreut und verwaltet, um sie dann schrittweise zusammenzuführen.

Eine Frage noch zur künftigen Eisenbahnplanung in Berlin. In der Stadt gibt es einen Streit über die Frage, wo und ob ein neuer Zentralbahnhof gebaut werden soll. Welche Position bezieht denn die Bundesbahn in diesem Streit?

Siegert: Wir können in diesem Streit nur eine sehr neutrale Position einnehmen. Die Planungshoheit liegt beim Berliner Senat, und er ist gefordert, sich eine Meinung zu bilden. Ich kann nur eine sehr persönliche Meinung äußern: Natürlich brauchen wir einen neuen Bahnhof, vor allem für die Nord-Süd-Anbindung. Und als Verkehrsmittel ist die Eisenbahn nur dann attraktiv, wenn wir dem Kunden das bieten, was auch ein Flughafen bietet: daß man von einem Punkt aus in alle Himmelsrichtungen reisen kann. Wir sollten uns von vornherein nicht mit halbherzigen Lösungen zufriedengeben. Deshalb bin ich ganz klar Befürworter eines Zentralbahnhofs. Daß dafür natürlich mehrere Standorte zur Auswahl stehen und daß das eine ganz schwierige Abwägungsentscheidung ist, daß damit auch gewaltige technische Probleme - lange Tunnelstrecken zum Beispiel verbunden sind, das liegt auf der Hand. Aber ich würde mir schon wünschen, daß man diese Abwägung irgendwann mal beendet, damit man hier in der Stadt wirklich Stadtplanung betreiben kann. Denn wenn immer jemand den Finger heben muß und sagen muß, das käme doch für einen Zentralbahnhof in Frage, dann kommen wir an dieser Stelle mit keiner Sache weiter, sondern stellen alles nur immer in Frage.

Es gibt Leute, die würden den Anhalter Bahnhof gerne wieder aufbauen und als Zentralbahnhof nutzen. Was halten Sie davon?

Siegert: Nichts. Ich habe Verständnis dafür, und ich glaube, es ist auch notwendig, daß man immer wieder Träume hat. Aber zum Traum gehört dann irgendwann auch mal das Aufwachen und die Realität, und bei einer realistischen Einschätzung kommt man an der Tatsache nicht vorbei, daß das ein Wahnsinnsunterfangen wäre, sowohl was die finanzielle Seite anbetrifft als auch was die planerische Seite anbetrifft.

Heißt das, daß die Bundesbahn an dem Plan festhält, auf dem Gelände des Anhalter Bahnhofs eine neue Verwaltungszentrale zu bauen?

Siegert: Ob meine Kollegen in der heutigen Bundesbahnzentrale in Frankfurt das genauso sehen, da habe ich meine Zweifel. Aber wir wünschen uns das, und ich glaube, auch die Stadt Berlin sollte sich wünschen, daß die Zentrale der künftigen Deutschen Eisenbahn nach Berlin kommt. Und da ist für mich das Gelände des Anhalter Bahnhofs eine ideale Fläche. Ich versuche, mit den mir möglichen Gesprächen weiter für diesen Plan zu werben. Natürlich ist da eine Grünanlage entstanden. Aber auch unter dem Aspekt „Berlin als Hauptstadt“ wird man sehr kritisch abwägen müssen, ob wir bei aller Sympathie für Grünanlagen nicht hin und wieder auch mal eine Fläche brauchen, wo wir ein Verwaltungsgebäude hochziehen.

Interview: Thomas Kuppinger/ Hans-Martin Tillac