Wann endlich folgt das Coming-out?

■ Die DDR-Frauen aus dem Blickwinkel eines Westmannes: Sind sie wirklich so scheu?

Anfang September 1989. Auf dem Festivalgelände in Weißensee treten diverse westdeutsche Bands auf, rund 40.000 meist jugendliche Zuschauer haben sich auf dem staubigen Gelände versammelt. Einige Künstler weisen mit Anspielungen auf die besetzten BRD-Botschaften in Prag und Budapest und die Lage in der DDR hin. Verhaltene Reaktionen im Publikum, wissende Blicke wechseln von Paar zu Paar. Für emotionalen Ausbruch sorgt anderes: Moderator Ingolf Lück verteilt ein Kompliment. »Ich muß gestehen«, ruft er in den Abendhimmel, »ihr in der DDR habt die schönsten Mädchen der Welt!« Riesenjubel. »Ich muß euch noch was sagen«, fährt Lück ungerührt fort und preßt es dann heraus: »Ihr habt aber auch die häßlichsten Männer der Welt!« Orkanartige Buhrufe.

Das war gemein, doch ein Blick in die Menge bestätigte diese Erkenntnis vorbehaltlos. Seltsam nur, daß auch die jungen Frauen sich empörten — Lück hätte ihnen doch aus der Seele sprechen müssen. Während die Männer Schnauz- und Vollbart ebenso ungeniert zur Schau trugen wie ihre aus schlechtsitzenden Shorts ragenden, stacheligen Beine, bot das Gros der Frauen eine Augenweide. Wer es sich leisten konnte, trug knappe Miniröckchen; luftige T-Shirts und Blusen waren bunt und, wenn auch nicht gewagt, immerhin auffallend frech. Welch ein Kontrast zu ihrem Erscheinungsbild auf den Straßen der Republik.

Die beim Konzert so leuchtenden Augen sind dort nämlich meist scheu zu Boden gerichtet, DDR-Frauen halten dem Blick ihres Gegenübers nicht lange stand. Wenn die »jungen Muttis«, wie sich selbst Anfang 20jährige in den Heiratsanzeigen der DDR-Zeitungen feilbieten, ihre Kinder hinter sich her ziehen, erscheinen sie auch im farbenfrohsten Kleid grau und geduckt. In der alten DDR per Gesetz in allen Belangen dem Mann gleichgestellt, erfüllen sie weit mehr typische Frauenklischees als ihre Schwestern im Westen: verkrampft am Trabi-Lenkrad festgekrallt, vornübergebeugt und mit leerem Blick den Kinderwagen schiebend. Überhaupt, die Kinder: von Mädchen geboren, von viel zu jungen Frauen gestriegelt und verpackt wie in den 50er Jahren, von überforderten Müttern gemaßregelt wegen jeder Kleinigkeit. »Sitz still!« — das ist wohl nirgendwo so oft zu hören wie in den S-Bahnen der DDR.

Nein, diese Frauen sind, Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel, nicht aufregend, versprühen keinen Sex-Appeal. Das hat nichts mit Äußerlichkeiten zu tun — in der DDR sind die Frauen so dick und so schlank, so groß und so klein wie im Westen auch. Es hängt auch nicht von der Kleidung ab oder der Frisur — auch hierbei sind die Unterschiede zu den westdeutschen Frauen bald überwunden; beim »Einwesten« enteilten die DDR-Frauen ihren Männern ohnehin rasch. Die spießige Dauerwelle gehört bei jungen Frauen zur Vergangenheit, und auch der von Ostberlinerinnen benutzte Lippenstift gleicht nicht mehr dem einer oberbayerischen Dorffriseuse. Es ist die Ausdrucksleere der Augen, es ist der lethargische Blick, der die Vorstellung verhindert, diese Wesen könnten nicht nur geduldig Schlange stehen und Kinderwagen schieben, sondern auch eine interessante Persönlichkeit darstellen, selbstbewußtes Subjekt sein oder sexuelle Initiative ergreifen. Sie jammert zwar, so ist zu hören und zu lesen, über die Phantasielosigkeit der Ostmänner im Bett. Aber: Steht das nicht auch ihr geradezu ins Gesicht geschrieben? Die typische DDR-Frau dürfte Filme von Almodovar oder Pasolini allein als pornographischen Schweinkram empfinden, würde sich von de Sade angewidert abwenden und Bataille verschmähen.

Die Normerfüllung, die kleinen und zumeist unerquicklichen Fluchten — in den Deli-Laden, ins Mutterglück, in die Datscha, in das Bett eines anderen Mannes — scheinen die DDR-Frauen geprägt zu haben. Den Widrigkeiten ausweichen war oberstes Prinzip. Und der Initiative. In Gruppen überlassen die Frauen in der DDR lieber den Männern das Reden — und das ist in allen Milieus, nicht nur in niedrigen Bildungsregionen, der Fall. Sagen sie dennoch etwas, sind ihre Worte sorgsam abgewägt und bedacht. Lautes Lachen? Fehlanzeige. Aggression? Nix da.

Zurückhaltung und demütige Scheu dominieren. Wenn Probleme angegangen oder zumindest benannt werden, dann suchen die DDR-Frauen die Schuld bei sich. Oder wie ist zu verstehen, wenn selbst die feministisch angehauchte, neue DDR- Frauenzeitschrift 'Ypsilon‘ über die Folgen der Pornowelle und den befürchteten Leistungszwang beim Vögeln schreibt: »Westfrauen! Wir kriegen genauso wie ihr keine Orgasmen am Fließband. Wir wissen auch oft gar nicht, wie das geht, sind verspannt und lustlos. Unsere Frigidität müßten wir alle erst einmal annehmen und frei betrachten können, sie nicht als Makel sehen und kein schlechtes Gewissen haben.«

Nur langsam kommt Besserung in Sicht. Wenn es Nacht wird in Ost- Berlin, fängt man(n) sich am Tresen einer der neuen Diskos auch schon mal einen tiefen Blick ein, tanzen die Frauen nicht mehr ganz so verhalten, präsentieren sie ihre Schönheit mit lockerer Bewegung. Männer werden daraufhin taxiert, ob sie als Mann was hergeben, nicht nur als sichere Bank fürs Familienglück. Aber ach: Auch die mode- und selbstbewußteste Ausnahmefrau in der DDR fällt zurück in die alte Rolle, wenn der Barkeeper sich nicht mal die geringste Mühe gibt, den durstigen Ansturm der schweißdampfenden Körper zu bewältigen. Ob sie aber noch pfeifen würde, falls jemand den typischen DDR-Mann als das beschimpft, was er ist? Axel Kintzinger