CAFÉSATZ VONCHRISTOPHBUSCH

In einem Café jemand Fremdes ansprechen und sie oder ihn ganz persönliche Dinge fragen. Die Einstiegsfrage: Warum sitzen Sie hier? Die letzte Folge der Serie von Christoph Busch erscheint am kommenden Samstag.

Das Café in der Haupstadt der DDR ist ein besetzter Laden, die Einrichtung Sperrmüll, auf den Gläsern sind 2 Mark Pfand. Er, graues Kraushaar und verwaschen blauer Jeansanzug, sitzt in der Ecke im roten Sofa, ganz für sich, trotz Fülle und lauter Musik. Sein Nachbar, Feuerzeugbleche an der ledernen Jacke, rückt ein Stück. Ich kann mich neben den Blau-Mann drücken.

Erich wohnt im Westen. Warum sitzt er dann hier? Mit den Menschen käme er schneller ins Gespräch. Es gehe ruhiger zu, sei wärmer in diesem Teil der Stadt. Darum sei er schon immer gerne im Osten zu Gast. Allerdings werde es kühler und lauter seit Öffnung der Grenzen. Müll, Müll, Müll über alles und erhöhte Preise. Keine Schlangen mehr, aber auch nicht genug Geld, um ohne Schlange einkaufen zu gehen. Ob er Kommunist sei? Nein, Christentum und Kommunismus, das seien nur große Ansprüche. Er sei einfach gegen den Kapitalismus. Gelernt hat er Einrichter am Band und ist jetzt für wenig Geld im westlichen Umweltschutz tätig.

Als Erich noch ein kleiner Junge war, zog es auch den Vater in den Osten. Die Mutter ahnte es schon während des letzten Fronturlaubs: „Mein Goldjunge kommt wohl nicht mehr wieder.“ Sie hat Recht behalten.

Auch bei Erich, der jetzt über 50 ist: Wegen einer Freundin zog er vor 15 Jahren aus der mütterlichen Wohnung im Ruhrgebiet in den Süden der Bundesrepublik. Die Mutter legte ihm vorher wie immer die Karten: Das werde nicht gut gehen, und er werde sich nicht mehr bei ihr melden, prophezeite sie. Seither hat Erich sich nicht mehr gemeldet und schämt sich dafür.

Nein, tot sei die Mutter, eine schöne Frau übrigens, bestimmt noch nicht. Sie lebe. Das spüre er, so wie er spüre, wenn seine augenblickliche Berliner Freundin an ihn denke. Die sei halb so alt wie er, verheiratet mit einem Mann, der nicht auf sie eingehe, und sei plötzlich dick und krank geworden: Es piekse sie überall, und die Ärzte suchten noch nach dem Grund.

Erich hat sie vor einem Monat zuletzt gesehen. Doch inzwischen hat er einen Brief von ihr bekommen: „Was machen wir an deinem Geburtstag?“ stünde darin. Sie habe für ihn kochen wollen. Er hat nicht geantwortet und seinen Geburtstag verstreichen lassen, ohne sich zu melden. Warum? Er müsse sich erst bei seiner Mutter melden.

Mein Vorschlag: Mutter schreiben. Das habe die Freundin auch schon gesagt. Ich ergänze: Nur eine Karte, eine Ansichtskarte von Berlin, nur mit Grüßen darauf. Erich versteht: Er müsse doch auch gar nicht alles erklären. Dabei klopft er sich gegen die Brust. Wir sind uns einig. Ich lehne mich zurück, raus aus dem Gespräch. Erich aber schaut jetzt tatendurstig, sitzt auf der Sofakante, holt den unbeantworteten Brief der Freundin heraus. Ich soll ihn lesen, während er schon auf dem Tisch mit der verspäteten Antwort beginnt.

Auf der Ansichtskarte für Erichs Mutter müßten die Häuser brennen, In einem Hauseingang ein toter, schon aufgeschwemmter Soldat, wie lebend an die Tür gelehnt. Ein kleiner Junge duckt sich in seinen Schutz und denkt noch heute daran. Diese Karte gibt es nicht gedruckt. Keine Post für Mutter. Aber vielleicht ist sie ja doch schon tot.

9.MUTTERSKARTEN