Wer bringt die Ernte ein?

■ Betriebe in der UdSSR verweigern — marktwirtschaftlich — die traditionelle Erntehilfe

Die Schwierigkeiten bei der Ernte in der Sowjetunion sind wahrscheinlich kaum noch zu übertreffen. Schon im Sommer war der weit klaffende Abgrund zwischen einer herangereiften Rekordmenge von 300 Millionen Tonnen Getreide und der Unfähigkeit, sie verlustlos von den Feldern zu räumen, ein unübersehbares Zeichen dafür, daß die Planwirtschaft am Ende ist. Im Herbst mußten sich die Schwierigkeiten des Sommers zwangsläufig in den Getreidegebieten des Ural, Sibiriens und Nordkasachstans sowie bei Kartoffeln, Gemüse und Obst fortsetzen.

Ein Präsidentenerlaß, der Aufruf des russischen Parlamentschefs Boris Jelzin und eine Vielzahl anderer Appelle zeigten offenbar wenig Wirkung. Auch der Erntenotstand, der von mehreren Regionen ausgerufen wurde, der Einsatz von Militär und andere Maßnahmen brachten keinen durchschlagenden Erfolg. Die Stadtbevölkerung, jahrelang zur Erntekampagne scharenweise in die ländlichen Gebiete geschickt, um Kolchosen und Sowchosen zu helfen, zeigt in diesem Jahr wenig Neigung, den Aufforderungen Folge zu leisten. Und dabei haben die Leute vermutlich auch eine gewisse Rückendeckung durch ihre Betriebe, die sich auf marktwirtschaftliche Bedingungen umstellen und daher in erster Linie den Nutzen solcher Vorhaben für sich abwägen.

In der aktuellen historischen Umbruchsituation greifen die alten Methoden des Kommandosystems nicht mehr, neue aber stehen noch im Stadium parlamentarischer Debatten. Noch schwerer aber wiegen die Sünden der Vergangenheit wie verfehlte Strukturpolitik, Vernachlässigung der technischen Ausstattung der Landwirtschaft, das veraltete und verschlissene Lager- und Handelssystem sowie Schlamperei.

Michael Graeme/adn