Adieu Solschenizyn

■ Bernard-Henri Lévy über das Leben ohne Helden DOKUMENTATION

Als am 27. Juni 1974 der erste Band des „Archipel Gulag“ in Paris erscheint, ahnte kaum jemand, welchen Einfluß dieses Buch auf die Geschichte der Linken in Frankreich haben würde. Was später als „Gulag- Schock“ bezeichnet wurde, war letztlich die Bestätigung des Gedankens von 1968, daß staatliche Macht nichts mit Parteibüchern zu tun hat. „Totalitarismus“, das Wort, das in der westdeutschen Linken auch heute noch nur mit Ekel in den Mund genommen wird, wurde im Gefolge der Philosophen André Glucksmann und Claude Lefort zur bleibenden Bezugsgröße für Intellektuelle in Frankreich. Bernard-Henri Lévy war einer der erfolgreichsten Popularisierer der neuen Kritik am Staatssozialismus.

Man wußte, daß er sprechen werde. Man wartete darauf. In Frankreich, aber vor allem in der Sowjetunion fühlte man, daß er sein Schweigen zu gegebenem Zeitpunkt brechen werde, und daß seine Worte dann in der gegenwärtigen politischen Debatte den Ausschlag geben würden. Jetzt ist der Tag also da. Die Worte stehen da vor unseren Augen, in diesem langen Wie Rußland neu einrichten (in der taz vom 20.09. in Auszügen veröffentlicht, d. Red.). Und jetzt ist es schwer, beim Lesen nicht von einem sehr ernsten Unwohlsein ergriffen zu werden.

Es geht noch an, daß er Gorbatschow vorwirft, nur der ausgefuchsteste der Reformkommunisten zu sein. Es geht noch, (denn wer könnte letztlich schwören, daß ihm die Geschichte da nicht auf lange Sicht Recht gibt?), daß er in den „lärmenden Jahren der Perestroika“ nur eine geschickte Maskerade sehen will, gekoppelt mit einer großen Unordnung. Was aber nicht mehr angeht und die Bewunderer des großen Schriftstellers betrüben muß, ist der Tonfall des Textes, dieser Hauch von Obskurantismus. da sind diese kleinen Sätze über die Exzesse des Pluralismus, des allgemeinen Wahlrechts, der Menschenrechte; und vor allem ist da dieses Porträt seines Wunsch- Rußlands: ein gesundes Rußland der Provinzen, ländlich und fast schon primitiv, ein Rußland, das wieder Gefallen an guter Arbeit finde, am Boden, an den Wurzeln, und das auf sein Imperium verzichten werde, so wie Frankreich in den Fünfzigern auf die Last des seinen hätte verzichten sollen, und darin seine Seele und seine verlorene Reinheit wiederfinde.

Manche werden jetzt „Faschismus“ rufen. Andere „Chauvinismus“. Wieder andere — oder dieselben — sehen den Autor des August 14 sich bereits der Pamjat anschließen, dieser rechtsextremen und offen antisemitischen Organisation, die seit einigen Jahren in Moskau ein gewisses Echo gefunden hat. Das ist natürlich absurd. Überflüssig beleidigend. Zumal der Text nicht mit Andeutungen spart („Gleichheit“ als Ziel... Das „alte Griechenland“ als Horizont... „Selbstverwaltung“... „Volksversammlungen“ als Typ von Regierung...), die offensichtlich einer derartigen Vermengung vorbeugen sollen. Doch angesichts dieser Seiten mit ihren Bannstrahlen wider die Moderne, mit diesem Richten über Abstraktion, Recht und Universelles, dieser Art und Weise, die „Demokratie“ als Pyramide von organisch verbundenen Mikrozellen zu sehen und dieser regelmäßigen Attacken gegen seine alten Bundesgenossen, die im „Ausland“ ihre politischen und wirtschaftlichen Modelle suchen — angesichts all dessen ist die Feststellung nicht abwegig, daß Solschenizyn — bis auf sein Genie! — in einer intellektuellen Bewegung Platz genommen hat, die in Osteuropa leider nur zu bekannt ist und die mangels eines besseren Begriffs „Populismus“ genannt wird.

Nichts Neues? Nein, das ist nicht neu. Und es ist richtig, daß man seit Jahren, seit seiner „Harvard-Rede“, dem „Untergang des Mutes“ oder selbst dem sehr schönen „Irrtum des Abendlandes“, den ich damals in Frankreich veröffentlichen durfte, auf tausend Hinweise für diese eigenartige Weltanschauung hingewiesen hat. Aber die Zeiten sind heute andere. Es geht jetzt um anderes. Und das Drama liegt darin, daß die gleichen Worte im alten Kontext einen gewissen Sinn machen konnten; sie waren wie Hebel, wie Angelpunkte für den Widerstand, gaben den Menschen eine Erinnerung, eine Identität, hatten wohl sogar das Verdienst, ein erniedrigtes Volk aufzufordern, sich gegen den übertriebenen Modernismus, den der Marxismus damals darstellte, zu erheben. Und jetzt haben sie einen anderen Sinn, stoßen auf anderen Widerhall und gesellen sich zu anderen Strategien, jetzt — wo die Revolte da ist, der Widerstand triumphiert und sich in der Tat die neue Frage stellt: Wie Rußland neu einrichten?.

In dem alten politischen — aber zugleich kulturellen und spirituellen — Streit, der seit einiger Zeit die Sowjetbürger aufs neue teilt in „Westler“ und „Slawophile“, in Nostalgiker der „Aufklärung“ und Anhänger einer „russischen Reinheit“, erinnert uns Solschenizyn in aller Deutlichkeit daran, daß auch er sein Lager gewählt hat. Rußland gegen den Westen. Die Nation gegen das Universelle. Die Erben Dostojewskis gegen jene Puschkins und Herzens. Er will uns in anderen Worten sagen, daß für ihn der Kommunismus stets nur eines — wenn auch ein ungeheuerliches — von mehreren Gesichtern der westlichen Verderbnis gewesen ist. Und nachdem der Kommunismus seinen Geist aufgegeben hat, bleibt nun immer noch die Verderbnis übrig. Daß Solschenizyn dies mit Talent sagt, steht außer Zweifel. Es gibt schöne Stellen in dem Text, und die Art und Weise, wie er mit dem sowjetischen Imperialismus ins Gericht geht, ist gewiß willkommen. Doch leider ist nicht weniger gewiß, daß Worte ihre eigene Logik besitzen, und wenn er uns unermüdlich seine Nostalgie nach der „russischen Seele“ wiederholt, nach dem „Zemstvo, der ersten Form lokaler Autonomie, die vom Zarismus ausprobiert wurde“ etc., kurz: wenn er gegen alle Stellung bezieht, die sich für eine Rückkehr nach Europa und dessen politischem Erbe aussprechen, dann plädiert er für ein System, daß in Anbetracht der russischen Geschichte sicherlich am wenigsten dazu geeignet ist, Gedanken an Demokratie aufkommen zu lassen.

Für die Bewunderer des Schriftstellers und alle, die den „Archipel Gulag“ in den Pantheon der größten Meisterwerke stellen möchten, ist dies ein Ereignis, dessen Bedeutung nur langsam zu fassen ist. Natürlich wird Alexander Solschenizyn für sie weiterhin eines der Monumente dieses Jahrhunderts sein. Er bleibt — für immer — der Mann, ohne den wir wahrscheinlich für sehr lange Zeit noch taub und blind gegenüber dem sowjetischen KZ-Schrecken geblieben wären. Und in Wahrheit sind ihm alle Dank schuldig, die sich — einschließlich der Perestroikisten — mehr oder weniger zunächst an der Kritik des Kommunismus, dann an seiner Liquidierung beteiligt haben.

Doch heute ist irgendetwas zusammengebrochen. Es ist wie der Wendepunkt, der nicht ihm allein geschuldet ist, nicht allein auch seiner Zeit — aber der etwas mit jener wundersamen und unsteten chemischen Lösung zu tun hat, die einen großen Mann und seine Zeit zugleich hervorbringt, und mit einem Mal die Farbe wechselt, ohne daß man genau weiß weshalb. Mit seinen Träumen und seinem Wahn, mit seiner Faszination für die „große Erde Rußland“ und den „Stimmen unter den Trümmern“ war der Autor des „Lenin in Zürich“ der Held der Dissidenz. Er wird es nicht mehr sein für die demokratische Strömung, die sich in Moskau formiert und an das große Gedächtnis Europas anknüpfen wird.

Ich liebte den Solschenizyn der siebziger und achtziger Jahre. Ich habe ihn bewundert, verehrt. Ich bedaure nicht, eines Tages geschrieben zu haben, daß er ein neuer Dante wäre, mit einer Hölle, genannt: Gulag. Heute, mit diesem Text empfinde ich ein wenig Trauer. Oder vielmehr: Ich spüre ein unwiderrufliches Sichentfernen. Noch genauer: Wenn dieser Geistesriese mich hat denken lernen, wenn seine Bücher mich umgekrempelt haben, wenn wir dank ihnen, in Frankreich und anderswo, all die Kämpfe haben führen können, dann müssen von nun an alle ohne sie auskommen, die — wie ich — weiterkämpfen und helfen wollen, auf den Trümmern des Kommunismus eine zivilisierte Gesellschaft zu errichten. Deshalb die Traurigkeit und Bitternis. Eine ganze Epoche, die ins Kippen gerät mit ihrem herausragendsten Vertreter. Und warum nicht auch ein Gefühl eingestehen, ein Gefühl, das legitim ist, wenn man über zehn, fünfzehn Jahre hinweg den Namen eines Schriftstellers auf seine Fahnen geschrieben hat: jetzt ohne diesen Namen schwächer dazustehen, wenn auch nicht unbewaffnet. Adieu, Solschenizyn.

Aus 'Libération‘, 26.9.1990

Übersetzung: A. Smoltczyk