Fortsetzung des Dissenses mit anderen Mitteln

■ Acht Thesen von György Dalos, vorgetragen auf der Tagung „Intellektuelle, Moral, Politik“ am 2.10. in Frankfurt DOKUMENTATION

1.Ein Lenin-Zitat aus dem Jahre 1920: „Moralisch ist das, was dem Kommunismus nützt.“ Wir wissen nun, was mit den Ländern geschah, in denen dieser Spruch zum obersten Gesetz erhoben worden war. Die Frage von heute könnte so heißen: Ist alles moralisch, was der Demokratie nützt?

2.Die politische Moral des Dissidententums operierte mit Begriffen wie Lüge und Wahrheit. Berufspolitiker in pluralistischen Gesellschaften denken dagegen in Zweckmäßigkeiten und Sachzwängen. Die ganze Wahrheit brauchen nur ganz wenige.

3.Die heikelste Frage, die die ehemaligen Dissidenten der Öffentlichkeit allein durch ihre Existenz stellen, ist die von der Verantwortung für die Vergangenheit. Die Gesellschaften waren dermaßen vom Staat durchdrungen, daß, wenn dieser als Verbrecher betrachtet wird, automatisch Millionen zu seinen Komplizen gestempelt wurden. Unter diesem Gesichtspunkt wäre es logischer, nicht nach Schuldigen, sondern nach Unschuldigen zu suchen.

4.Manche Dissidenten können der Gesellschaft ihre Passivität oder ihr Mitläufertum in den Jahren der Diktatur nicht verzeihen. Andererseits vergibt die Gesellschaft manchen Dissidenten ihren Widerstand nicht und verdrängt sie dadurch in eine neue Dissidentenrolle.

5.Es gibt jedoch auch einen anderen Mechanismus: Man wählt einen moralischen Menschen zum Präsidenten, zu einer Art Tugendbock der Öffentlichkeit, der dann die allgemeine Ehrlichkeit verkörpern soll. Der Wahlzettel gleicht in diesem Fall einem Ablaßzettel.

6.Dabei ist die Konstruktion „Lüge und Wahrheit“ tatsächlich etwas zu einfach. Mit dem Zusammenbruch der Diktatur ist nicht nur ihr Lügenmonopol, sondern auch das Wahrheitsmonopol ihrer Gegner entfallen. Sowohl Lüge als Wahrheit werden pluralisiert und im politischen Alltagsgeschäft wertneutral verwaltet.

7.Das Weltbild des Menschenrechtlers ging von der Annahme aus, die Bedürfnisse des Intellektuellen seien allgemein menschliche. Jetzt wird es höchste Zeit, gesellschaftliche Bedürfnisse so zu definieren, daß sie auch auf Menschen mit anderer Hautfarbe, ohne Diplom oder mit sechs Quadratmetern Wohnfläche anwendbar sind.

8.Gibt es einen Spielraum für die Dissidenten, eine Fortsetzung des Dissenses mit anderen Mitteln? Die Vergangenheit können sie nicht zurückwollen, die voraussichtliche Zukunft haben sie kaum so gewollt. Entweder wirkt ihr moralisches und geistiges Potential in den jungen Demokratien weiter, oder sie werden aufgerieben zwischen Moral und Politik, frustrierte Arbeitslose der Weltgeschichte.

Der Autor gehört zur einstigen demokratischen Opposition in Ungarn. Er lebt in Wien und Budapest.