Fatale Verdrängung

■ Nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation wächst die Atomkriegsgefahr GASTKOMMENTAR

Seit Jahrzehnten wurde bestritten, daß Atomwaffen zum Einsatz und nicht nur zur Abschreckung produziert würden. Jetzt aber droht dieser angeblich unrealistische Ernstfall — und nur wenige regen sich auf. Präsident Bush denke verstärkt über eine „militärische Lösung“ am Golf nach, heißt es. Wie beiläufig wird die Wahrscheinlichkeit erörtert, daß nichts anderes übrig bleiben werde, als der Bedrohung durch Saddam Husseins Chemie- und biologische(?) Waffen mit der „atomaren Option“ zu begegnen. Was die internationale Öffentlichkeit anscheinend als bloße regionale Strafaktion gegen den unbelehrbaren Diktator phantasiert, würde sich zu einer Katastrophe unausdenkbaren Ausmaßes auswachsen.

Wie kommt es zu der fatalen Verdrängung? Weil der Golf so weit weg ist? Weil wir uns nach dem Ende des Kalten Krieges im Westen nicht mehr bedroht fühlen? Weil man nach dem Giftgaskrieg Saddam Husseins gegen Iraner und Kurden schon den Glauben verloren hat, die ABC-Waffen noch jemals effektiv ächten zu können?

Oder gibt es gar so etwas wie ein heimliches Lauern auf den großen Knall, nachdem alles systematisch für ihn vorbereitet scheint? Da und dort wispert es schon: Dieses eine Mal müsse man halt noch ein blutiges Exempel statuieren, um danach einen herrlichen Dauerfrieden zu errichten, von den einträchtigen Supermächten und der erstarkten UNO beschützt. Nur das eine Mal noch...

Bestürzend ist es schon, wie wenig dieses heikle Thema in die Betrachtungen und Gelöbnisse zur Vereinigung eingedrungen ist. Nur selten auch ein Wort von der Scham, daß ausgerechnet deutsche Firmen Saddam Hussein erst zu der Macht mit hochgerüstet haben, mit der er jetzt Angst und Schrecken verbreitet; und daß speziell deutsche Helfer erst Gaddafi und dann dem Iraker die Produktion ihrer mörderischen Chemiewaffen ermöglichten. Warum mußten uns erst ausländische Freunde auf die Assoziation zwischen diesem Skandal und den Giftgasverbrechen unserer Vergangenheit stoßen?

Was sollen alle Friedlichkeitsschwüre zum Vereinigungstag, wenn dieses Deutschland mit seinem allerseits betonten Zuwachs an internationaler Verantwortung sich jetzt nicht deutlich rührte, um nachdrücklich für eine politische Verhinderung eines Golfkrieges einzutreten, der — von den Massen der unmittelbaren Opfer abgesehen — weltweit verheerende Auswirkungen hätte? Horst-Eberhard Richter

Der Gießener Psychoanalytiker spricht heute beim Eröffnungsplenum des IPPNW-Kongresses in Bonn zum Thema „Abkehr vom Stärkekult — die neue friedenspolitsche Aufgabe der Deutschen“