ER LETZTE URLAUB

Realspanischer Alltag oder

das gestörte Verhältnis zur Ökologie

VONJOHANNESWINTER

Im Maulbeerbaum raschelten die Blätter. Die Wirtsfamilie hockte drinnen vor einem Horror-Video, ich draußen vor einem Bier. Die Kinder waren beim Grillenfangen. Vor der Kapelle der Jungfrau vom Heil glänzten die Reiskörner der gestrigen Hochzeit, hinter ihr stieg Rauch auf. Immer stieg hinter der Kapelle überm Dorf Rauch auf. Im Winter, wenn der Wind drehte, stieg er hinab. Dann stank es unten auf der Plaza, daß die Leute husten mußten.

Auf dem Berg brannte das ewige Feuer der Müllkippe. Eine weiße Madonna blickte versteinert über qualmende Abfallhügel in die Ebene. Orangenplantagen dehnten sich, wo einst arabische Fellachen kunstvolle Bewässerungssysteme angelegt hatten.

Einzelne Rauchfahnen gaben Kunde, wie beliebt südlich der Pyrenäen die Müllverbrennung ist: haufenweise, per Streichholz und Benzinkanister.

Das Haus am Rande der Sierra lag in einem Olivenhain, umrankt von Oleander. Efeu und Wein gerieten sich an der Wand ins Gehege, Bougainvillea kroch übers Dach, Hibiskus prangte im Patio, die Bananenstaude klapperte. Im Johannesbrotbaum balgten sich Fliegen, seine Früchte begannen, sich eben schwarz zu färben.

Eine milde Brise wehte vom Meer. Südwärts ragte die Burg von Peniscola aus dem Küstensaum, vor Zeiten Sitz des einzigen Papstes in Spanien.

Papa Luna hatte sich während des Schismas, als Rom und Avignon überkreuz waren, hier angesiedelt, nicht achtend solch zeitgenössischer Anwürfe wie Piraterie, Mord, Vergewaltigung, Sodomie und Inzest.

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Der Präsident wankte, fiel aber nicht. Steine flogen, Eier verspritzten klatschend. Die Visite des katalanischen Landesherrn, der unlängst zum zweiten Mal demokratisch im Amt bestätigt worden war, galt einem Weiler im Hinterland. Das Dorf Florès war ausersehen, Kataloniens erste Sondermülldeponie zu beherbergen.

Kaum hatte der Hubschrauer von Jordi Pujol schutzsuchend im Hof einer Möbelfabrik Bodenberührung, als die Dörfler, den Zaun durchbrechend, die hitzige Flucht des ungebetenen Gastes erzwangen.

Im fünften Versuch gelang es dem Präsidenten abzuheben. Fäuste reckten sich und gespreizte Finger, Schmähworte wurden ausgestoßen.

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Der Südflügel des Ebro-Deltas flimmerte vor Hitze, die Sandbank lag unter Sonnenglas, auf der Piste gewahrte ich Silberseen aus dem Lande Fata Morgana. Meerwärts schmiegte sich ein roter Algengürtel geschmeidig an ihren Saum.

Die Lagune landwärts, das tote Wasser, sonst ein Dorado mit der Qualität einer riesigen Badewanne, gleichermaßen für Babies wie für Surfing-Adepten, hielt im Wassergras einen Nesselteppich verborgen. Die Kinder rannten schreiend ans Ufer, ich kratzte mir wütend die Schenkel — die Haut brannte und schwoll rot an.

Das Delta selbst, wo Reisplantagen und Vogelparadiese nebeneinander lagen, schien davon unberührt. Jährlich wuchs das Mündungsdreieck stetig ins Meer. Unsere Wette, wann Mallorca erreicht sein würde, blieb vorerst ohne Hoffnung auf Gewinnverteilung.

Eine halbe Stunde flußaufwärts stand ich auf der alten Brücke, in Tortosa. Nebenan ragte rostig das Heldenmal Francos aus dem Wasser, das an die dreihunderttausend Toten der Ebro-Schlacht erinnerte, die letzte Entscheidung für den Caudillo im Bürgerkrieg. Zu seinen Füßen gurgelte der Strom als bräunliche Brühe, ein gewaltiger Karpfen- Schwarm quirlte den Schlamm.

Oberhalb mündete Futter. Es stank. Ein weitläufiges Gebäude, mit glitzernden Dächern und bunten Keramikbändern einer Pagode ähnlich, war der Urheber.

Überm Haupttor stand in goldenen Lettern „Matadero“ — der Schlachthof, dessen Kläranlage defekt war. Der Ebro ihr Ersatz. Zur Kloake gewendet, kroch er ins Tal.

Das Ufer färbte sich rot, die Angler hatten eine Stelle zwanzig Meter stromaufwärts vorgezogen. Die Ebro-Karpfen, erzählte einer, waren neulich in einer deutschen Anglerzeitung gewürdigt und auf Hochglanzseiten den germanischen Kollegen vorgestellt worden, Prachtexemplare ohne gleichen.

Ich floh vor der Hitze. Im Speisesaal des Parador hoch über der Stadt schwelgte eine Geige im Vivaldi- Sommer. Auf der Speisekarte hatte ich die Wahl zwischen „Fasan mit Trauben“ und „Fische in Romesco- Sauce“.

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Die Meldung des Tages: Spaniens Tourismus-Einnahmen sind im Vormonat um knapp dreißig Prozent zurückgegangen.

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Die Siesta war vorüber. Der Strand am Fuß der Cordillera belebte sich, aus den Bungalows kamen zuerst die Kinder. Surfbretter wurden ausgepackt. Als der Ball ins Gestrüpp flog, gingen wir ihn suchen.

Stießen auf Abfallhaufen, zerborstene Kisten, die Lederkugel mitten drin. Wespen flogen auf. Eine Holzlatte trug die Adresse „Central Nuclear de Vandellós“. Am anderen Ende des Strandes standen die beiden Blöcke des Atomkraftwerks Vandellós. Die örtliche Öko-Gruppe wurde gerufen und steuerte Meßergebnisse bei. Ihr Geigerzähler blieb bei fünftausend Millirem stehen. Die Presse nahm den Fall auf.

Anderntags wurde früh morgens das Radio aktiv. Meldete stündlich von einem Störfall im Atomkraftwerk VandellósII. Dementierte hartnäckig irgendwelche Gefahren. Einige tausend Liter verseuchter Dämpfe seien entwichen, aber im Innern von BlockII verblieben.

Dieser Block, der jüngste aller spanischen AKW, hatte soeben — nach drei Jahren Betrieb — den fünfzigsten Störfall. BlockI war kürzlich stillgelegt worden, nachdem im Oktober '89 alle Welt von einem Beinah-Tschernobyl dortselbst im ältesten spanischen AKW gesprochen hatte.

Aus der Betonburg am Rande des Strandes drang eine dumpfe Lautsprecherstimme herüber. Meer und Himmel mischten sich ins Blaue hinein. Eine Jacht dümpelte zwischen Tretbooten. Der Sand rieselte weiß durch die Finger. Vielleicht war nur der Chauffeur zum Hinterausgang gerufen worden.

Mein Nachbar war mit der kunstvollen Herrichtung seines größten Olivenbaumes zur Vogelfalle mittels Leimruten beschäftigt und meinte, so lange der Strom aus Vandellós nicht ausfalle, sei Besorgnis überflüssig.

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Die Kinder liebten die Bucht, weil der Herr der Eisbude seine Geschäfte so polyglott versah, daß neben Spanisch, Katalanisch und Deutsch auch Englisch im Angebot war.

Bisweilen ließen sie Sand und Wellen außer acht, um Ozeanriesen zu bestaunen. Nebenan nämlich ragte die Mole eines Zementwerks ins Meer. Und alle zwei Tage machte ein anderer Tanker fest. Um sie zu füllen, fraßen sich seit eh und je die Bagger ins Küstengebirge.

Ich aber trank wegen des feinen Staubs auf der Zunge, der aus den Schwaden der Schlote niederging, mehr Bier als sonst und kratzte nachher mißmutig an der Karosserie der Familienkutsche; die Zementspritzer waren schon steinhart.

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Gegen Abend pflegte die Nachbarin mit dem Oxford-Akzent die Hähne zu öffnen, ließ Rinnsale und Bäche strömen, lenkte um und sperrte ab, bis Blumen, Bohnen und Kartoffeln genug hatten. Das Wasser, mahnte sie, sei nicht zum Trinken, weil nitratverseucht.

Das Flugzeug hatte wie immer allerlei für Wachstum und gegen Ungeziefer über den Orangenplantagen versprüht. Die Apfelsinenbauern hatten ihre Vorräte an Gift und Dünger verbraucht. Im Supermarkt gab es nicht von ungefähr plastikflaschenweise stilles Wasser. Auf dem Weg ins Dorf kreuzte die Straße den ausgetrockneten Fluß. Sein Bett wurde als Müllhalde mißbraucht. Ich wich einer Ratte aus, doch sie sonnte sich nicht auf dem Asphalt, sie war tot.

Rosmarin duftete. Das Rezitativ der Grillen setzte ein.

An der Küstenstraße fand ich eine Tankstelle mit bleifreiem Benzin. Ein Jugendstil-Brunnen tröpfelte zwischen den Zapfsäulen, Goldfische schwammen träge, ein Frosch tauchte erschreckt ab.

Hinter der Mauer stieg Rauch auf, schwarzer Rauch. Reifen brannten. Ich bekam einen Würgreiz. [Bekomm' ich auch bei so viel ignoranter Arroganz. Schon mal in der schönen rheinischen Pfalz gewesen?? Zwischen Ludwigshafen, Mannheim und dem idyllischen Heidelberg?? Da ist vielleicht viel Rauch, sag' ich dir! Und stinken tut's da auch. Oder geh doch mal durch die „Hauptstadt“, wenn's feucht ist und die Straße aufgerissen ist. Puh!!! Regt sich bloß kein Mensch auf. Warum auch. Es liegt ja fast vor der Haustür. Da kann man sich doch nicht aufregen!! d.S.In]

Zwischen Orangen, Oliven und Pfirsichen führte die Straße zurück in die Berge. Seitwärts, wo es unwegsam wurde, machte sich eine langgestreckte Halle breit, zwischen Disteln und Dornen, von Zypressen gerahmt, dazwischen ein Feigenbaun.

Es kreischte und roch süß-sauer.

Ein Betrieb für Schweinezucht lag am Hang, einen Steinwurf weiter stand eine Hühnerfarm, hinter der Biegung ein Putenstall. Güllegestank hing in der Luft [Was erwartest du da eigentlich? Rosenduft?!]. Thymian [Wat denn nu? Eben war's noch Rosmarin!] ade.

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Der Gecko hing an der Decke, als es dämmerte. Aus der Ebene drang, blinkend und dröhnend, später Verkehrslärm nach oben. Was Esels- und Maultierkarren abgelöst hatte, kroch über die Landstraße — Lastwagen ohne Unterlaß.

Die Autobahn überließen sie — der Gebühren wegen — den Touristen. Auf dem nächsten Camping- Platz waren deshalb vor Jahren zweihundert von ihnen verbrannt. Der Fahrer eines Tanklastzuges hatte einem Hund ausweichen wollen und war von der Landstraße abgekommen.

Der Gecko schlüpfte ins Dunkel. Fledermäuse tanzten über die Terrasse. Die Schwalben schwiegen.

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Das Nachtmahl im Hafenrestaurant war vorzüglich, Seeteufel auf gedünsteten Kartoffelscheiben in Ingwersoße, das klassische katalanische Suqet, zum Nachtisch gefrorene „crema catalana“, gebadet in einem Schuß Mascaró. Die Palmen an der Hafenpromenade, zum Ersatz für wilde Orangen aus Kuba importiert, kränkelten vor sich hin.

Hinter der Hafenmauer gluckerte es unterm Sternenhimmel. Durch ein schenkeldickes Rohr schoß das dörfliche Abwasser, Chlor und Fäkalien. Das Mittelmeer als Kläranlage.

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In der aktuellen Liste von Spaniens verseuchten Stränden fehlten das Ebro-Delta, die Zementbucht und auch der Strand von Vandellós.

Ich beschloß den Tag im Swimmingpool. Im Wasserspeicher des Vogelfängers nebenan quakten die Frösche.