Nationalismus oder demokratische Inhalte?

■ Interview mit Galina Starovojtova, Mitglied der sowjetischen Delegation zur Assembly/ Galina ist Abgeordnete im Obersten Sowjet der russischen Föderation für Moskau und im Obersten Sowjet der SU für Erewan INTERVIEW

taz: Wie steht es gegenwärtig mit unabhängigen gesellschaftlichen Gruppen in der Sowjetunion? Wachsen sie oder sind sie in der Krise?

Galina: Schwierige Frage. Die gesellschaftlichen Gruppen sind zugleich im Aufwind und Niedergang. Einerseits gibt es viele neue Initiativen, aber der Hauptstrom ist schwächer geworden. Die Interessen sind oft partikular und die verbindenden Kanäle zu eng. Vielleicht ist das natürlich. Unsere wichtigste Aufgabe ist es jetzt, politisch zu konsolidieren. Gerade findet in Moskau ein Treffen aller demokratischen Kräfte statt, die sich zu dem Block „Demokratisches Rußland“ vereinigt haben. Viele der kleinen Gruppen sind dabei und ich hoffe, daß sie sich verbinden und vielleicht sogar eine Partei gründen werden.

Die politische Aktion ist jetzt das Wichtigste?

Zum ersten Mal seit fünf oder sechs Jahren diktiert die ökonomische Lage die Politik. Der Oberste Sowjet hat leider statt des ebenso radikalen wie realistischen Programms Schatalins für Gorbatschows Vorschlag gestimmt, der nichts als eine Ersatzhandlung darstellt. Die demokratischen Kräfte müssen jetzt autonom ihr Verhältnis zur Zentrale bestimmen. Einige Führer werden zurücktreten, denn sie haben zwar die Verantwortung, aber keine Macht.

Die Menschen bei Ihnen, auch die Demokraten, werden ungeduldig. Gibt es die Gefahr einer autoritären Wende?

Die Gefahr dieser Wende besteht.

Überall wird nach Sündenböcken gefahndet, mal sind es die Juden, mal die Intellektuellen. Man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, daß die Gesellschaft mehr auf einen Bürgerkrieg als auf eine Bürgergesellschaft zusteuert.

Die Mehrheit der Bevölkerung wird schon die Schuldigen finden. Jetzt herrscht Desorientiertheit vor. Und Apathie. Meine Wähler in Moskau und Erewan sagen: Gut, wir wollen weiter geduldig sein. Aber bitte stell jetzt die Forderungen auf und formuliere die Slogans. Dann gehen wir auf die Straße und streiken. Eine brandgefährliche Situation. Die Menschen bei uns könnten sich wirklich auf die Jagd nach vermeintlich Schuldigen machen und einer neuen autoritären Führerfigur folgen — es gibt mehrere Prätendenten für diese Rolle. Viele Voraussetzungen für die Faschisierung unserer Gesellschaft sind jetzt erfüllt.

Jakovlew, Chef von Moskowkje Novosti, sagte, Sacharow und Gorbatschow hätten jetzt den Friedenspreis bekommen, aber die Leute wollten und könnten nicht unterscheiden, wofür Sacharow gestanden habe und wofür Gorbatschow heute steht.

Dem kann ich nicht zustimmen. Sacharows demokratisches Engagement war ganz klar und wurde von den Menschen akzeptiert. Man erinnert sich seiner, auch öffentlich. Die Verleihung des Preises an Gorbatschow wurde mit Verwunderung und Enttäuschung zur Kenntnis genommen. In vielen Teilen der Sowjetunion herrscht schon Bürgerkrieg. Die Preisverleihung war ein Zeichen des westlichen Egoismus. Man gibt Gorbatschow eine carte blanche im Innern, wenn er in den internationalen Beziehungen kooperiert.

Sind die Menschen in Rußland bereit, die Demokratie zu verteidigen?

Ich bin nicht sicher. Sie sind zum Teil von den Demokraten enttäuscht. Und es ist eine Demokratie unter den Bedingungen der Blockade. Denken Sie an die künstlichen Lebensmittel-Verknappungen gegen Moskau und Leningrad. Popow sagte, wenn er zurücktritt, werden in drei Tagen die Lebensmittelläden voll sein.

Wie stehen Sie zur neuen Föderation in der SU? Kann der Bund souveräner Republiken auch die demokratischen, gesellschaftlichen Kräfte stärken?

Schade, daß im Westen nicht verstanden wird, was jetzt vor sich geht. Es handelt sich um eine Verlagerung des gesamten politischen Lebens vom Zentrum in die Republiken. Künftig wird sich das Zentrum von seinen arroganten Ambitionen verabschieden müssen. Es bleiben koordinierende Augaben.

Wird in den Republiken der demokratische Impetus nicht durch den nationalistischen abgetötet?

Der Nationalismus dominiert in der ersten Phase. Aber es geht um demokratische Inhalte, die jetzt noch in einer nationalen Phraseologie verhüllt sind. In den asiatischen Republiken mag sich das anders entwickeln, aber wir in Rußland sind jetzt sehr sensibilisiert für Demokratie und Menschenrechte — vielleicht mehr als der Westen, den wir mit unseren ungelösten Problemen auf die Nerven gehen, ihn in seiner zivilisierten demokratischen Ruhe stören.

Das Interview führten

Sabine Herre und Christian Semler