Wenn „unser Staat“ sich engagiert

Eindrücke von der ersten gesamtdeutschen Tagung des Bundes demokratischer WissenschaftlerInnen  ■ Von Anja Baum und Dorothee Hackenberg

Das Hochschulwesen der ehemaligen DDR ist auf dem besten Wege, das Bitterfeld der Wissenslandschaft Deutschlands zu werden“, prophezeite der Theologe und Rektor der Humboldtuniversität Heinrich Fink. Man hatte sich versammelt, um über die alternative Entsorgung dieser Gebiete zu reden. Der Bund demokratischer WissenschaftlerInnen (BdWi), ein interdisziplinäres, gewerkschaftsnahes, radikal bis reformerisches Kind der 68er mit Sitz in Marburg und gegenwärtig 1.500 Mitgliedern, traf sich am vergangenen Wochenende zum ersten Mal in größerem Rahmen mit KollegInnen aus der ehemaligen DDR. Die dreitägige Arbeitskonferenz in der Berliner Humboldtuniversität trug den Titel Wissenschaft und Hochschulen in der neuen deutschen Republik — demokratische Alternativen.

Viel zu wählen hatten die frisch eingemeindeten DDR-Wissenschaftler bisher nicht: Die mit den Giften sozialistischer Ideologie und Moral verseuchte Zone DDR-Wissenschaft — so jedenfalls an den Pranger der Öffentlichkeit gestellt — wird mit wissenschaftspolitischen Rezepten zwischen Kahlschlag und Kolonisation angegangen; für eine eigenverantwortliche Neuorientierung bleibt da wenig Raum. Vor „kommunistischen Brutstätten“ fürchteten sich schon die Berliner Liberalen, als „eine Wüste“ hat der neue Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Hans F. Zacher, die Geistes- und Sozialwissenschaften der Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin bezeichnet — und will sie nicht einmal geschenkt. Die Max- Planck-Gesellschaft ist als ein von Bund und Ländern subventioniertes Institut der „Blauen Liste“ neben der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Fraunhofer Gesellschaft und anderen Großforschungseinrichtungen zur Eingliederung von Exforschungseinrichtungen ausersehen worden. So will es der Einigungsvertrag. Zu prüfen, was aber wie wohin hineinpaßt, bleibt oder stirbt, also zu „evaluieren“ schickt der Wissenschaftsrat fünf- bis zwanzigköpfige Wissenschaftlerkommissionen auf die Reise.

Nachdem der Forschungsverbund der ehemals bedeutendsten wissenschaftlichen Einrichtung der DDR, der Akademie der Wissenschaften, aufgelöst worden ist, wird jedes Institut „begutachtet“. Vereinzelt wurden auch schon Todesurteile ausgestellt wie etwa dem Institut für Elektronenphysik oder dem Institut für Wirtschaftsgeschichte, allerdings vorläufig, wie es heißt. Der Wissenschaftsrat gebe nur Empfehlungen an die noch zu installierenden Länderministerien, bis Dezember 1991 wird der Lohn garantiert. Wer forschen will, muß derweil selber zahlen.

Dabei interessieren sich die sogenannten „Evaluierungskommissionen“ weniger für die wissenschaftliche Qualität der Forschungsprojekte als für die „spezifische Bedeutung der Arbeit“, die internationale Reputation, den abfallenden Mehrwert der Forschung und — das Alter der Mitarbeiter. „Die Frage: Wieviel Forschung und welche Forschung brauchen wir, ist nicht mal angedacht worden — nur wo man die Schnitte ansetzt“, meint Charles Melis, Wissenschaftstheoretiker der Akademie. Dies und die Geheimniskrämerei der reisenden Arbeitsgruppen läßt die Betroffenen vermuten, die ganze Befragung diene nur dazu, ein schon vorher feststehendes Urteil „wissenschaftlich zu untermauern“. Ursprünglich hatten die Akademiemitarbeiter eine Evaluierung als Möglichkeit einer institutionellen Erneuerung und vor dem Hintergund einer drohenden Auflösung der Akademie begrüßt. Inzwischen hält Jörg Roesler, leitender Mitarbeiter am von der Schließung bedrohten Kuczynski-Institut für Wirtschaftsgeschichte, die Evaluierung für eine Fortsetzung der alten Politik mit anderen Mitteln. „Mein Eindruck ist, daß hier eine Wissenschaftslandschaft zerschlagen werden soll, um jeden Preis. Für mich ist das geistiger Imperialismus.“

Rechnen tut es sich jedenfalls nicht: Beim Durchsieben der Wissenschaftslandschaft werden, so lauten die Prognosen, etwa 50 Prozent der ungefähr 40.000 Wissenschaftlerinnen in die Arbeitslosigkeit entlassen. Vorgerechnet wurde von mehreren Tagungsreferenten aber ein politisches Rollback. Die Emanzipationsprozesse seit dem Abbau der Ordinarienuniversität in der Bundesrepublik, mit ihren Kriterien: Öffentlichkeit, Artikulationsmöglichkeiten für alle Betroffenen, Beteiligung der demokratischen Instanzen, spielten beim Anschluß der DDR- Wissenschaft bislang keine Rolle. Im Osten werden der von vielen als notwendig erkannte Erneuerungsprozeß und die Entwicklung innovativer Konzepte überschattet von Existenzangst und der Befürchtung, nach der gerade erst begonnenen Demokratisierung der Hochschulen wieder von Entscheidungen ausgeschlossen zu werden. Doch auch im Westen wäre eine demokratische Frischzellenkur an der Zeit. Die Vizepräsidentin der Hamburger Fachhochschule, Verena Fesel, sieht die Mitbestimmung in den Hochschulen am Ende. Ein erschreckender Abbau der Geisteswissenschaften zugunsten der Technologieforschung sei mit einer entsprechenden Finanzpolitik verbunden. Der Stellenwert der Lehre sinkt, und der Mittelbau gerät wieder langsam in die Leibeigenschaft der Ordinarien. In der „Stunde der Exekutive und Zentralisation“ (Wolfgang Nitsch, Oldenburg) werden die Hoffnungen auf erneuernde Impulse für die gesamtdeutsche Wissenschaftslandschaft enttäuscht.

Daß die Probleme völlig unterschiedlich, die Innovationserwartungen aber ähnlich sind, zeigte eine der wenigen kontroversen Debatten in den Arbeitsgruppen. Während die Westler sich mit Drittmittelfinanzierung, Tutorienprojekten und Frauenförderplänen herumschlagen, reden die Ostler von Rechtsüberstülpungen und „Bewahrenswertem“. Die mühseligen Westalternativen seien im Augenblick sicher nicht die Antwort auf die bevorstehende Auflösung der ostdeutschen Wissenschaftslandschaft, räumte die Bildungsexpertin Hilde Schramm (AL) gegenüber den Klagenden ein.

Was nun aber tatsächlich zu bewahren sei an Ausbildungsmethoden, Forschungspraktiken oder den eingeforderten Verbindungen von Wissenschaft und Gesellschaft, konnte von den MitarbeiterInnen des Zentralinstituts für Hochschulbildung (hier mußte früher jede Vorlesungsreihe abgesegnet werden) nicht auf den Punkt gebracht werden. Als dann man doch noch ein gemeinsames Thema fand, brachen die unterschiedlichen Sprachen und Denkweisen hervor. Die einen wollen, daß „unser Staat sich zeitgemäß für die Hochschulen und die Wissenschaft verantwortlich engagieren müßte“, die andern kritisieren die neue, subtilere Einmischung des Staates. Die Kontexte der jeweils anderen Institute blieben im Nebel, die fehlenden Alltagszusammenhänge machten es schwer, Erfahrungen nachzuvollziehen, und selbst Publikationen blieben oft unverstanden, gestand der Oldenburger Professor Wolfgang Nitsch. Bevor tatsächlich Alternativen für die Entwicklung der deutschen Hochschullandschaft benannt werden könnten, müßten ordentliche Analysen über deren Bestand vorliegen. Doch über den befinden derzeit schon andere.

Mit radikalerem Ansatz, doch ohne praktischen Ertrag, nämlich unter der Fragestellung Wozu braucht eigentlich jetzt wer welche Sozial- und Geisteswissenschaften sowie Marx in der Wissenschaft — was bleibt? wollte die Branche sich in einer anderen Arbeitsgruppe auf eine Markt- und Modenkompatibilität durchleuchten, gegenwärtigen Gebrauchs- und Tauschwert historisch- kritisch würdigen. Angesichts der gerade stattfindenden Durchpflügung der DDR-Wissenschaftslandschaft durch großteils bundesdeutsche Fachfunktionäre, die mögliche Denk- und Forschungsüberlebensräume neu abstecken, erschienen die Diskussionen innerhalb der Arbeitsgruppe aber eher als Beschäftigungstherapie — zumal die Westdeutschen mangels hochkarätiger DDR-Präsenz im eigenen Saft kochten.

Die vielbeklagte Legitimationskrise der Sozialwissenschaften wird durch die drohende DDR-Akademikerarbeitslosigkeit nicht besser. Seit man von den 1968 erkämpften gesamtgesellschaftlichen Programmen verschämt wieder Abstand nimmt, steht „Sich-nützlich-Machen“ hoch im Kurs. Immer mehr Betriebe verlagern ihre Ausbildung an die Universitäten, was dem Bedürfnis der Akademiker, die nicht mehr Lehrer werden durften, nach attraktiven Studiengängen entgegen kommt. Und in der ehemaligen Sektion Wirtschaftswissenschaften der Humboldt-Universität finanziert die Deutsche Bank schon eine Ring-Vorlesung. In der BRD-Wissenschaftsgeschichte, so referierte der Siegener Sozialswissenschaftler Klemens Knobloch, ginge es längst nicht mehr um Gesellschaftsanalyse, oder, wie der gegenwärtig an der Humboldt-Universität lehrende Gastprofessor Frank Unger für die DDR-Wissenschaft positiv hervorhob, um „einen Anspruch auf Wahrheit“, sondern um die Subsistenzwirtschaft auf neuen Berufsfeldern, um Selbstversorgung durch Nischenexistenzen im Wissenschaftsbetrieb bis hin zu einer postmodernen Unterhaltungskultur. Die Verkabelung mit gesellschaftlicher Praxis findet nicht oder unkritisch statt. Neue Anschluß- und Verstöpselungsmöglichkeiten werden gesucht — Reparaturstätte, Versöhnungswerkstatt will man aber nicht sein.

Oder doch? Was der BdWi als 68er-Kind sich einst auf seine Fahnen geschrieben hat, ein Humanisierungsinstrument der Gesellschaft zu sein, wird nun auf einmal von unerwarteter Seite ins Feld geführt. Die Historikerin Karla Schulz von der Akademie der Wissenschaften wünschte sich die Sozialwissenschaften als „Orientierungshilfe“. Genau das ist dem Westler aber zutiefst verdächtig: Kompensationsinstrument und Sinnstifter zu sein für den Legitimationsverlust der technologischen Gesellschaft.

Dem Selbstverständnis von Wissenschaft als Erkenntnisprozeß von Wahrheit indes gibt sich der von geistiger Korruption zutiefst angeekelte Westmarxist gerne hin. Georg Fülberth ging in seinem flammenden neorevisionistischen Plädoyer für eine Wiederentdeckung des Marxismus als kritische Theorie gar so weit, alle Anstöpselungsversuche an eine eh zur Zeit unmögliche umzuwälzende gesellschaftliche Realität hintanzustellen zugunsten einer „sterilen Kritik der Negation“. Allerdings müßten dann auch Begriffe wie Ausbeutung, auf die der Marxist eine Planstelle aber kein Monopol hätte, neu geschärft werden — geschärft auch an feministischen und globalen Ausbeutungstheorien.

Eine elegante Schleife zum nicht mehr wegzuredenden realexistierenden Pluralismus. Mit diesem Kampfbegriff, in den neuen Statuten ehemaliger DDR-Institute bereits festgeschrieben, wird weniger Vielfalt von Denkrichtungen als ein Denkverbot kapitalismuskritischer Positionen abgesichert. „Werden alle Marxisten Pluralisten?“, fragt man sich hier und sorgt sich auch um eine schöpferische Methode, die auf das Niveau der Empirie herabgedrückt werden könnte. Ganz im Sinne der Marktwirtschaft scheint dieser Prozeß von Angebot und Nachfrage bestimmt: Nicht nur die (Neu) Gier auf das früher Verfemte läßt die im Westen als Ausschuß gehandelten Vorlesungsinhalte im Osten wieder blühen — im Schlaglicht: Lorenz' Verhaltensforschung —, eine Überanpassung der Ostwissenschaftler, ein Klima gegenseitiger politischer Denunziation führt womöglich zum Einbruch des bisher erreichten Argumentationsniveaus, zum Rückfall hinter fortschrittliche Theoriekonzepte im Westen.

Vielleicht offenbart sich die Relevanz dieser Positionen erst in ihrer Umkehrung als Wendewissenschaft. Der Marburger Historiker Reinhard Kühnl befürchtet Relativierungen, wie sie der Historikerstreit als bisher beispiellose Verzahnung von wissenschaftlich überholten Positionen, Wirtschaftsinteressen und politischer Verwertbarkeit hervorgebracht hat. Inwiefern dieser Prozeß ein geplanter, also auch planbarer ist, darüber konnte sich die Runde nicht einigen — ist doch die Analyse der eigenen Wissenschaftssituation selber geschwächt von der bedingungslosen Kapitulation vor dem Kapitalismus. Wen wundert's, daß die pragmatisch angetretene Arbeitsgruppe „Frauen in der Wissenschaft — Wissenschaft für Frauen“ auch als einzige ein konkretes Ergebnis vorweisen konnte: Eine Resolution, in der die im Verband organisierten Wissenschaftlerinnen zu den Praktiken der Evaluierung Stellung nehmen: Quotiert soll der Henker sein. Was bleibt — Bildung neuer Arbeitskreise und ökolibertäre Vorschläge für eine sanfte Abtreibung des Marxismus: Bitte kein Bitterfeld.