Die „produktive Revolution“ läßt auf sich warten

Der Sparkurs der argentinischen Regierung wirkt bisher nur kontraproduktiv: Die Monopole scheren sich nicht um die heiligen Gesetze des Monetarismus  ■ Aus Argentinien Gaby Weber

Vor den Toren der Antarktis wurde es heiß. Mit den Parolen „Hurensohn“, „Verräter“, „Halt's Maul“ wurde Carlos Saul Menem niedergeschrieen. Der argentinische Staatschef hatte nicht auf die dringenden Empfehlungen seiner Berater gehört, öffentliche Auftritte zu unterlassen. Obwohl er in den letzten Wochen auf allen Veranstaltungen ausgebuht und beschimpft worden war, mußte er es unbedingt noch einmal in Ushuaia im fernen Feuerland versuchen. Seine vorbereitete Rede, in der er zum x-ten Mal Zweckoptimismus verbreiten und zum Gürtel-enger- Schnallen auffordern wollte, blieb ungelesen in seiner Jackentasche stecken. „Verbrecher und Trotzkisten“, schimpfte der beleidigte Staatschef und drohte: Alle Teilnehmer seien vom Geheimdienst registriert worden und haben mit sofortiger Entlassung aus dem öffentlichen Dienst zu rechnen.

Nicht nur in Feuerland ist die Hölle los, die meisten Provinzen befinden sich in offener Rebellion. Selbst die peronistischen Gouverneure kommen nicht umhin und müssen sich den Bürgerprotesten gegen die Zentralregierung in Buenos Aires anschließen. Seit Tagen streiken die Angestellten in Tucuman, ein Ende ist nicht absehbar. In Jujuy organisiert die Bürgerversammlung Cabildo Abierto den Boykott gegen die Informationsveranstaltung der Regierung: „Das ist die beste Form zu beweisen, daß das Volk von den unerfüllten Versprechungen die Nase voll hat.“ In Chubut blockierten Tausende die Landstraßen und besetzten den Flughafen. Die Rentner, denen in den vergangenen Monaten nur umgerechnet 30 Dollar Altersversorgung ausgezahlt wurde, verbarrikadierten sich im Sozialamt. Die Polizisten schlossen sich der wütenden Menge an — auch sie haben ihr Septembergehalt noch nicht erhalten. Banken und Geschäfte waren solidarisch und zogen die Rolläden runter.

Von den 290.000 Erwerbsfähigen in Chubut ist jeder dritte ohne Job, und die 23.000 Angestellten haben vom Augustlohn erst einen Teil und vom Septembergehalt noch keinen Austral erhalten. Dabei ist die Provinz reich: Hier wird Erdöl und Gas gefördert. Der Erlös aus dem Erdölverkauf fließt in den Säckel der Zentralregierung, die einen Teil an die Provinz zurücküberweisen muß. Doch seit drei Monaten zahlt Buenos Aires nicht mehr und steht inzwischen mit über 600 Millionen Dollar bei der Provinz Chubut in der Kreide. Es sei eben nicht genügend Geld in der Kasse, erklärte der Wirtschaftsminister achselzuckend und befahl der Provinz, bislang vergeblich, 6.000 Angestellte zu entlassen.

Die Bürger haben sich zur „Multipartidaria“ zusammengeschlossen, ein Bündnis aus Parteien, Gewerkschaften, Unternehmern und Basisgruppen. Die aus Buenos Aires angereisten Politiker, darunter auch Kommunisten und Trotzkisten, wurden ausgebuht. „Wir wollen keine Sprüche mehr hören“, mit diesen Worten wurden sämtliche Berufskader vor die Tür gesetzt. Am 8. November soll in der Provinz gestreikt werden, eine Woche vor dem nationalen Generalstreik.

Die schon lange andauernde Krise in Argentinien ist zu einem neuen Höhepunkt kulminiert. Seit dem 1. September wurde ein neuer Sparplan in Kraft gesetzt, um das notorische Defizit in den Griff zu bekommen, die Spektulation zu beseitigen und die versprochene „produktive Revolution“ einzuleiten. Doch von nichts ist Argentinien weiter entfernt als von einer Steigerung der Arbeitsproduktivität. Zwar wurde der Höhenflug des Dollars — der stets für die Hyperinflation verantwortlich gemacht wurde — gebremst, aber Spekulation ist immer noch profitabler als Produktion. Wer zum Beispiel am 1. März 1.000 Dollar flüssig hatte und sie, in Australes getauscht, angelegt hat, dessen Kapital ist sechs Monate später auf umgerechnet 4.500 Dollar angeschwollen. Solche Gewinnspannen kann natürlich keine andere Branche erzielen, schon gar nicht angesichts des schrumpfenden Binnenmarktes. Ende Februar bekam man pro Dollar 6.000 Australes, heute etwa 5.600. Das Schatzamt quillt fast über von den grünen Geldscheinen, die es in den letzten Monaten zum Spottpreis erstanden hat. Nach anderthalbjähriger Unterbrechung bedient die peronistische Regierung wieder den Schuldendienst und braucht Devisen.

Der Höhenflug des Dollars wurde mit einer klassischen monetaristischen Maßnahme gestoppt: Es wurde einfach kein Geld mehr gedruckt. Was alle neoliberalen Wirtschaftswissenschafter als notwendigen und automatisch eintretenden Effekt beschwören — das Ende der Inflation —, trat aber mysteriöserweise nicht ein. Während die Geldmenge stagnierte, kletterte die Inflation munter weiter, in den vergangenen sechs Monaten um 330 Prozent. Dieses „Wunder“ erklären die Experten mit „psychologischen Momenten“: Das Volk habe sich eben an die Inflation gewöhnt. Was sie nicht sagen: Es existiert in Argentinien kein Konkurrenzkapitalismus — die Preise werden von einigen Monopolen willkürlich festgesetzt. Und die scheren sich nicht um die heiligen Gesetze des Monetarismus, sondern nur um eines: die möglichst schnelle Vermehrung ihres Kapitals.

Schon macht das Wort von einer „Depression“ die Runde. Denn diesmal geht es nicht nur den mittleren und kleinen Unternehmen an den Kragen, betroffen sind jetzt zum ersten Mal auch die großen Fische. Der Weizenpreis ist um die Hälfte gefallen, und die verstärkten Exportbemühungen drohen am ungehinderten Protektionismus der Industriestaaten zu scheitern. Zudem hat sich der Profit der Agro-Exporteure dank des billigen Dollars halbiert. Im ersten Halbjahr fiel das argentinische Bruttosozialprodukt um 17 Prozent. Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei 20 Prozent, und im Einzelhandel ging der Umsatz um ein Viertel zurück.

Den Zahlen zum Trotz feiert Menem weiterhin sein Modell. „Das Land befindet sich auf dem richtigen Weg“, verkündet er unentwegt und interpretiert die Krise als Erfolg seiner Politik. Immerhin sei das Haushaltsdefizit zurückgegangen — eine wesentliche Bedingung des Internationalen Währungsfonds für den nächsten Überbrückungskredit. Diese „Gesundung“ des Etats konnte erzielt werden, indem den Provinzen nicht mehr ihr Anteil aus dem Gas- und Ölverkauf überwiesen wurde. Die Lieferanten erhalten von der Regierung nur noch Gutscheine, die erst in zehn Jahren beglichen werden sollen — von der nächsten Regierung. Nur in einem Punkt zeigt sich Menem großzügig: Er schickte zwei Kriegsschiffe in den Golf, um an der Seite der USA für die „Freiheit des Westens“ und für billiges Erdöl zu kämpfen.