Kompaktnahrung für Körper und Geist

■ Das »Bildungsmaterial« von Ulrike Grossarth im Zwinger

Die Dinge einfach und wörtlich nehmen, scheint manchmal eine vertrackte Angelegenheit. Das »Bildungsmaterial«, das Ulrike Grossarth in der Galerie Zwinger anbietet, erinnert in seiner Gestaltung an die Aufgabe einer alten Schulfibel für Erstklässler. Doch trotz der Einfachheit der Zeichen steht man davor, wie vor unlösbaren Bilderrätseln einer fremden Kultur.

Am linken Rand der Bilderserie ist eine schulische Grundsituation abgebildet: Bänke in Reihen aufgestellt, davor, je zu zweit an einem Tisch, die Schüler. Ihre Hände ruhen auf dem Tisch, bereit für kommende Aufgaben. In Leserichtung folgt auf den nächsten Bildtafeln das mögliche Material ihrer Bildung, angeordnet in symmetrischen Gruppen. Pflanzen, Mauern aus Steinen gebildet, geschlossene Linien, die eine Sammlung Punkte umrunden, Schleifen von Bändern. Ob die Schüler deren Formen ertasten, ihre Konturen nachahmen, die Dinge beschreiben, abzählen, beim Namen nennen oder verändern sollen, bleibt offen.

Weiteres Objekt der Ausstellung ist ein Block, gebildet aus Alltagsdingen. Was sich sonst in der Wohnung verwuselt, ist akkurat aufgeräumt und auf Kantenlänge zusammengepaßt: Bücher, Zeitschriften, Brotlaibe, Konserven, Küchenschwämmchen, Souvenirs. Kleine Spalten sind mit Reclamheftchen und Kaugummis abgedichtet. Die Überschaubarkeit des materiellen und geistigen Bestandes wirkt absurd: Der Block beinhaltet Bildungsmaterial des Geistes und des Körpers, Kompaktnahrung für Seele und Leib.

Zwei Topfpflanzen auf einem Teetisch demonstrieren die natürliche Bildung: das Formprogramm aus dem Samenkorn. Aus einem Walkman und zwei kleinen Boxen wird die eine von ihnen leise besprochen - da stoßen zwei Formen von Bildung zusammen, die in unserem Denken nicht zusammenpassen.

Das Duden-Herkunftswörterbuch, das zum »Bild« einen Hinweis auf den Wortstamm »Bil«: »Wunderkraft, Wunderzeichen« liefert, vermittelt unter dem Stichwort »bilden«: »Als Ableitung von dem unter: Bild behandelten Substantiv erscheinen ahd. (althochdeutsch) biliden, ‘einer Sache Gestalt und Wesen geben‚, und ahd. bilidon, ‘eine Gestalt nachbilden‚. Mhd. bilden vereinigt beide Bedeutungen und gilt bes. ‘von handwerklicher und künstlerischer Arbeit‚, aber auch von Gott als Schöpfer wie später vom Schaffen der Natur und (reflexiv) vom Werden natürlicher Formen. Als pädagogische Begriffe treten bilden und Bildung erst im 18. Jahrhundert auf, jedoch vorbereitet durch die mittelalterliche Mystik.«

Die Begriffe Bilden, Bild, Abbild und Bildung verlieren in Grossarths Materialsammlung ihre Selbstverständlichkeit und Eindeutigkeit. Quer durch Natur, Religion, Kunst und Pädagogik werden sie zu einer allumfassenden Formel: jegliche Bildung von etwas changiert zwischen dem selbstverständlich in ihm Angelegten und dem Wunderbaren. Die Arbeit der Künstlerin erscheint nur als Sonderform eines allgegenwärtigen Prozesses, der Natur und Kultur gleichermaßen bewegt.

Nicht zufällig setzt Ulrike Grossarth das symmetrische Bildungs- programm einer Pflanze in Beziehung zu der Schulbank. Für sie wurzelt auch die Bildung des Menschen in seinem Körper, der ihm als erstes Werkzeug der Wahrnehmung und der Formung dient: seine Körperachse und -symmetrie bestimmen seinen Zugriff auf die Welt. Doch das Bewußtsein über die grundsätzlichen Voraussetzungen der menschlichen Apparatur der Erkenntnis und Aneignung ist verschüttet. Also schickt Ulrike Grossarth den Menschen wieder auf die Schulbank, um noch einmal von neuem die Welt zu entdecken und sich seiner Sinne zu versichern. Katrin Bettina Müller

Ulrike Grossarth: Bildungsmaterial in der Galerie Zwinger. Bis 22.Dezember, Di-Fr 15-19 Uhr, Sa 11-14 Uhr. Am Freitag, 14.12., findet um 18 Uhr ein Gespräch mit Ulrike Grossarth in der Galerie statt.