Indien im Banne neuer religiöser Unruhen

Hilflosigkeit des Staates, Ratlosigkeit in der Öffentlichkeit: Die Staatsphilosophie der religiösen Toleranz findet keine Resonanz  ■ Aus Neu-Delhi B. Imhasly

Die Unruhen, die seit zwei Wochen den Süden, Westen und Norden des Landes heimsuchen, haben nach offiziellen Angaben bisher 340 Menschen das Leben gekostet. Zahlreiche als vermißt gemeldete Personen gelten als Hinweis dafür, daß die Zahl der Opfer in dieser neuen Welle von Gewalt zwischen Hindus und Muslimen in Wahrheit noch größer ist. Neben der Zahl der Toten, der weiten geografischen Verbreitung, ist es aber auch die offenbar geplante und ausgesuchte Brutalität der gegenseitigen Angriffe, die hier mit einem Gefühl der Ratlosigkeit und des wachsenden Zweifels an sich selber registriert wird. Die schwersten Zusammenstöße ereigneten sich erwartungsgemäß dort, wo Angehörige beider Gemeinschaften hautnah nebeneinander leben: In Hyderbad, der Hauptstadt des früheren islamischen Staates Andhra Pradesh, starben bis zum Wochenende 133 Menschen; in Aligarh, Sitz der berühmten „Aligarh Muslim University“, mitten in einer von Hindus bevölkerten Landwirtschaftszone, wurden über sechzig Menschen Opfer des religiösen Fanatismus. Der Ausbruch von Unruhen in diesen beiden Städten löste in zahlreichen anderen Regionen von Uttar Pradesh, Rajasthan und Gujarat Spannungen aus, die sich in neuerlichen Morden in Kanpur, Varanasi, Agra, Lucknow, Ahmedabad und Baroda entluden.

Trotz Ausgehverboten und dem Einsatz von paramilitärischen und militärischen Einheiten reagierten die staatlichen Behörden kopflos auf die Unruhen, die seit Monaten in der Luft lagen. Seitdem nämlich die „Vishwa Hindu Parishad“ (VHP), sekundiert von der „Bharatiya Janata Party“ (BJP), den Streit um die Moschee von Ayodhya zum Sammelpunkt für den Kampf um eine hinduistische Gesellschaftsform gemacht hat, fühlt sich die muslimische Minderheit in ihren tiefsitzenden Existenzängsten bestätigt. Der Ruf nach einem „Hindutva“, einem von hinduistischen Idealen geprägten Staat, ist nämlich durchsetzt von antiislamischen Ressentiments: Die Moschee in Ayodhya muß abgerissen werden, nicht nur, weil dortselbst der Geburtsort von Gott Rama behauptet wird, sondern auch als verspätete Sühne für den Vandalismus der muslimischen Eroberer.

Die Durchsetzung einer Politik der Hindu-Mehrheit sollte auch der offiziellen Staatsphilosophie ein Ende setzen, welche im Namen der religiösen Toleranz die Mehrheit diskriminiert und die muslimische Minderheit verwöhnt hat.

VHP wie BJP wollten aus ihrem symbolischen Sieg in Ayodhya am 30. Oktober politisches Kapital schlagen und kündigten für den 6.Dezember ein „Satyagraha“ an — die freiwillige Verhaftung Tausender von „Kar Sevaks“ (Tempelerbauern) vor der nach wie vor geschlossenen Babri-Moschee. Zur Mobilisierung der nötigen Gefolgschaft wurden in vielen Städten Prozessionen mit der Asche der „im Kampf um den Ram-Tempel gefallenen Kar Sevaks“ durchgeführt. An mehreren Orten führten diese Züge durch Muslim-Quartiere und provozierten bereits im November Zusammenstöße. Dies veranlaßte Anhänger beider Seiten, sich für den 6. Dezember zu wappnen. Wie erwartet wurden diese als Schutz gedachten Maßnahmen, meist selbstgebastelte Waffen, zum eigentlichen Auslöser und Instrument der Angriffe. Sie erfolgten in erster Linie an den sensiblen Nahtstellen, wo die verunsicherten Muslime lokale Mehrheiten bilden und auf engstem Raum mit Hindus zusammenleben. Drahtzieher auf beiden Seiten, Kriminelle mit guten Beziehungen zu Parteien, provozierten dann in der Regel die ersten Zwischenfälle und waren durch ihre Wahl der Tötungsmethoden und der Opfer — vor allem Frauen und Kindern — fähig, den Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt rasch in Bewegung zu bringen. In Hyderabad allein sollen über dreißig Kinder brutal ermordet worden sein.

Das allgemeine Gefühl einer nationalen Katastrophe wird noch dadurch vertieft, daß selbst neutrale Instanzen wie die Polizei und Teile der lokalen Presse von der Hindu-Welle erfaßt werden und den Konflikt eskalieren. Am 13. Dezember traten Teile der „Povincial Armed Constabulary“, einer speziellen Einsatztruppe für Unruhen, in Aligarh in einen Streik und weigerten sich, in Hindu-Quartieren Hausdurchsuchungen vorzunehmen. In Meerut, 60 Kilometer östlich von Delhi, beklagten sich die Muslime, daß die Mehrzahl ihrer Toten Opfer von Polizeikugeln waren. Die regionalen Hindi- und Urdu- Zeitungen wurden in mehreren Fällen zu eigentlichen Agents provocateurs, als sie sich zum Sprachrohr von Gerüchten machten, denen jegliche Grundlage fehlte. In Aligarh verbreitete eine Zeitung die Nachricht, wonach Hindu-Patienten im Spital der Universität von muslimischen Ärzten statt behandelt mit Spritzen getötet wurden. Dies führte vergangene Woche zu neuen Angriffen von seiten der Hindus, bei denen auch eine neunköpfige Familie in ihrem Haus eingeschlossen und dort verbrannt wurde.

Mehrere nationale Zeitungen zogen Vergleiche mit den Pogromen von 1947 heran, um der Konsternation und Hilflosigkeit Ausdruck zu geben. Doch selbst der Vergleich mit den blutigen Ereignissen von 1947 gibt den Kommentatoren wenig Trost: Damals bewogen die Gemetzel zwischen Hindus und Muslimen in Kalkutta Mahatma Gandhi zur Ausrufung eines unbefristeten Hungerstreiks, und Nehru rief aus, er werde nicht ruhen, bis er „jede Träne aus jedem Auge“ getrocknet habe. In frappantem Gegensatz dazu überschlagen sich die heutigen Politiker mit Lippenbekenntnissen, während sie auf die politische Wirkung ihrer Äußerungen schielen. Für den Kommentatoren der 'Times of India‘ liegt der Anspruch des modernen Indiens, ein Ort der religiösen Toleranz zu sein, in Trümmern: „Statt einer lebendigen, offenen und religiös relativistischen Tradition, welche den anderen als Manifestation des Göttlichen erkennt, sehen die Hindutva- Eiferer den anderen als unnachgiebigen Feind.“ Was diesen Wandel besonders gefährlich macht, ist die Tatsache, daß religiöser Fanatismus heute nicht mehr allein als Reaktion auf den knappen Lebensraum und chronische Unterbeschäftigung zu verstehen ist, sondern von großen Teilen der Mittelklasse mitgetragen und von nationalen Parteien artikuliert wird. Diese geben damit zweifellos auch einer tiefsitzenden Enttäuschung über ihren Staat Ausdruck, der ihnen in den über vierzig Jahren Unabhängigkeit weder eine spirituelle noch eine materielle und nationale Heimat zu geben vermochte. Am Ende eines für viele Länder der Welt hoffnungsreichen Jahres hinterläßt das Indien von 1990 das Bild eines Staates, dessen Ränder — Assam, Kaschmir, Pandschab — abzubrechen drohen, dessen gesellschaftliches Selbstverständnis durch Kasten- und Religionskämpfe erschüttert wird und dessen kurzlebige Minderheitsregierungen anzutreten scheinen, nur um unter Beweis zu stellen, daß sie mit den Krisen nicht fertig werden.