Die posthegemoniale Ära

Aus einem Zeitalter des gesicherten Weltfriedens bewegen wir uns in eine Ära der Kriegsbedrohung und Unterdrückung. Nach dem Zerfall der US-Hegemonie und dem Phänomen Gorbatschow werden sich die wirtschaftlich schwachen Staaten des Südens im 21. Jahrhundert zwei Blöcken im Norden gegenüber sehen, die um den ökonomischen Kuchen kämpfen.  ■ VON IMMANUEL WALLERSTEIN

Die Ereignisse der Jahre 1989 und 1990 – die Auflösung der kommunistischen Einparteiensysteme in Osteuropa und die Krise am persischen Golf – sind ein dramatischer Wendepunkt in der Geschichte des Weltsystems und das Ende der Nachkriegszeit. Darüber scheinen sich alle einig zu sein. Aber wie sollen wir ihre Bedeutung interpretieren? Ist es der Triumph der politischen Demokratie und/oder des freien Marktes über den Kommunismus? Ist es das Ende einer polarisierten Welt, wird nun wahrhaft das Modell der Vereinten Nationen verwirklicht, das auf dem Papier schon seit 1945 besteht? Wird uns nun endlich, 45 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, die sogenannte „Friedensdividende“ ausgezahlt?

Nichts dergleichen. Ganz im Gegenteil. Die Ereignisse von 1989/1990 sind die unmittelbare Folge des Niedergangs der US-Macht; sie liefern den schlagenden Beweis, daß wir die Ära der US-Hegemonie hinter uns lassen. Weit davon entfernt, von einer bipolaren Welt in eine unipolare fortzuschreiten, bewegen wir uns in Wirklichkeit von einer unipolaren zu einer bipolaren Welt. Weit davon entfernt, eine Etappe hinter uns zu lassen, in der der Weltfriede bedroht war, und in eine Situation einzutreten, in der der Friede gesichert ist, bewegen wir uns in genau die entgegengesetzte Richtung: aus einer Ära, in der der Weltfriede gesichert war, gelangen wir in ein Zeitalter, in dem er bedroht ist. Weit davon entfernt, nach einer Ära mit starken totalitären Kräften eine Welt der demokratischen Werte zu begrüßen, verlassen wir diese Zeiten, in denen liberale demokratische Kräfte eine bedeutende Rolle spielten, und treten ein in eine Ära, in der Intoleranz und Unterdrückung weitaus verbreiteter sein könnten.

Die Etappe, die wir hinter uns lassen, die Jahre 1945 bis 1990, war das Zeitalter der US-Hegemonie im Weltsystem. Diese Ära stand für eine Weltordnung, in der seit 1945 die Vereinigten Staaten die Regeln bestimmten und sich in fast jeder Frage, auf jedem Schauplatz durchsetzten. Völlig fraglos galt dies von 1945 bis 1970. Im wesentlichen traf dies aber auch noch in den siebziger und achtziger Jahren zu, wenn auch unter zunehmenden Schwierigkeiten.

Grundlage der US-Hegemonie war der unglaubliche Produktivitätsvorsprung, den die Vereinigten Staaten 1945 besaßen – ein Vorsprung, den sie 1970 (jedenfalls gegenüber Westeuropa und Japan) eingebüßt hatten und der seither immer mehr schwindet. Dieser ursprüngliche Vorsprung wurde politisch, militärisch und sogar kulturell in institutionalisierte Vorteile umgemünzt.

Diese Vorteile wurden dadurch abgesichert, daß die USA zwei Komplexe von Vereinbarungen eingingen: einen mit ihren wichtigsten Verbündeten (Westeuropa und Japan), den andern mit ihrem vorgeblichen Erzfeind, der Sowjetunion. Die Vereinbarung mit den Verbündeten ist bekannt und wird offen anerkannt: Die Verbündeten erhielten von den USA Hilfe beim ökonomischen Wiederaufbau und akzeptierten im Gegenzug vorbehaltlos die führende Rolle der Vereinigten Staaten im Weltmaßstab. Die Vereinbarung mit der Sowjetunion ist ebenso bekannt, wurde jedoch niemals offen eingestanden. Der Sowjetunion wurde die unbestrittene Vorherrschaft in Osteuropa eingeräumt-vorausgesetzt, daß in Europa der Friede erhalten blieb und die Sowjetunion beim ökonomischen Wiederaufbau keine Hilfe erwartete. Man verständigte sich auf einen Modus, der in der Tat notwendig war: daß nämlich beide Seiten die ideologische Lautstärke erhöhten, um in ihren jeweiligen Lagern ausreichend Disziplin und Massenloyalität zu gewährleisten.

In der Rückschau läßt sich sagen, daß die beiden Vereinbarungen der USA (mit ihren Verbündeten und mit der Sowjetunion) ganz hervorragend funktionierten und zu dem führten, was die Historiker eines Tages als den „Großen amerikanischen Frieden“ von 1945 bis 1990 bezeichnen werden. Absolut herrschte Friede sicherlich nur in Europa, da in der Dritten Welt die bewaffneten Konflikte weitergingen. Und sicherlich waren die Völker Ost- und Mitteleuropas die unfreiwilligen Opfer dieser Vereinbarung zwischen den USA und der Sowjetunion. Aber der Friede blieb erhalten, und großer Wohlstand wurde erreicht, zumindest für die OECD-Länder.

Doch es gab ein Haar in der Suppe. In den unmittelbaren Nachkriegsjahren kümmerte sich in der Region, die wir heute als „den Norden“ bezeichnen, niemand auch nur im geringsten um die politischen Interessen jener Region, die wir heute „den Süden“ nennen. Man ging davon aus, daß der Süden im wesentlichen machtlos sei und sich mit seinem Los eben abfinden müsse. Aber von Anfang an zeigte sich der Süden (oder die Dritte Welt) weit aufsässiger und selbstbewußter als erwartet. Die chinesische Kommunistische Partei ignorierte Stalins Befehle und marschierte in Shanghai ein. Die Entkolonisierung verlief erheblich schneller, als es sich irgend jemand im Norden wünschen konnte. Vor dem unerwarteten Druck wichen die USA und der Norden im allgemeinen zurück, aber nicht immer schnell und nicht immer elegant. Zumindest zwei größere Konflikte – Algerien und Vietnam – führten zu langen Kriegen, die sich für den Norden als sehr lästig erwiesen. Zusätzlich begannen die Länder der Dritten Welt, sich kollektiv stärker auf der Weltbühne zu behaupten, wie zum Beispiel durch die Bewegung der blockfreien Staaten.

Die Herausforderung der US-Hegemonie durch die antikolonialistischen und antiimperialistischen Bewegungen in der Dritten Welt war ernsthaft, systematisch und – was die unmittelbaren Ziele angeht – auch erfolgreich. Aber die Struktur der Weltordnung wurde niemals wirklich in Frage gestellt. Diese Bewegungen beteiligten sich sämtlich an einem Diskurs, der von Wilson ebenso geprägt war wie von Lenin und sich nur als eine Variante des Glaubens der Aufklärung an den unvermeidlichen Fortschritt auf Grundlage menschlicher und weltlicher Rationalität erwies. In erster Linie strebten diese Bewegungen nach politischer Unabhängigkeit und ökonomischer Entwicklung. Das erste Ziel erreichten sie, das zweite nicht.

Dennoch inspirierte die Revolte der Dritten Welt die weltweite Revolution von 1968, in der die Legitimität der US-Hegemonie ebenso untergraben wurde wie die ihres Partners, der Sowjetunion. Zu eben jenem Zeitpunkt ging auch die materielle Grundlage der US-Hegemonie durch den wirtschaftlichen Aufstieg ihrer Verbündeten, Westeuropas und Japan, verloren. In den Jahren von 1970 bis 1990 erlebten wir die Geschichte des Versuchs der Vereinigten Staaten, sich gegen diese Bedrohung ihrer Hegemonie zur Wehr zu setzen, die sich aus dem Verlust ihres ökonomischen Vorsprungs und der Legitimität ihrer ideologischen Führung ergab. Die USA versuchten, dieser Entwicklung mit Hilfe zweier Strategien entgegenzutreten: mit der „Zurückhaltung“, in der sich Nixon, Ford und Carter versuchten; und dem „Pseudo-Machismo“ von Reagan und Bush. Beide Strategien funktionierten eine Zeitlang, erreichten aber ihre Grenzen und brachen dann zusammen.

Die „Zurückhaltung“ der siebziger Jahre bestimmte vier größere politische Unternehmungen der Vereinigten Staaten. Die erste war der Trilateralismus – der Versuch, Westeuropa und Japan zur Respektierung der US-Führung zu bewegen, indem man ihnen eine größere Rolle zugestand. Die zweite war die Entspannung – der Versuch, nach 1968 den Verlust der Legitimität der USA (und der UdSSR) durch ein Herunterdrehen der ideologischen Lautstärke aufzuhalten und den wichtigsten Herausforderer, China, in das System einzubeziehen (Nixons Reise nach China). Die dritte politische Unternehmung war die Preissteigerung des Opec-Öls, die durch die wichtigsten Agenten der USA (den Schah von Iran und die Saudis) initiiert wurde. Ihr Ziel war, während des weltweiten ökonomischen Abwärtstrends die Weltüberschüsse aufzusaugen und dann in Form von Darlehen an die Dritte Welt und den Sowjetblock wieder in den Verkehr zu bringen, um damit die Weltnachfrage nach US-Exporten aufrechtzuerhalten. Die vierte Strategie bestand darin, die politische Ungeduld der Dritten Welt formal als legitim anzuerkennen (Rückzug aus Vietnam, einschließlich des sogenannten Nach-Vietnam-Syndroms).

Bis zu einem bestimmten Punkt war diese Taktik erfolgreich – bis zu dem Punkt, als der Ayatollah Chomeini sie als Bluff entlarvte. Die Vereinigten Staaten waren während dieser ganzen Zeit besorgt über die Bewegungen in China, Vietnam, Algerien, Ägypten, Kuba etc. Aber all diese Bewegungen hatten sich in gewissem Sinne an die Spielregeln zwischen den Staaten gehalten. Der Iran unter Chomeini pfiff darauf und demütigte damit den „Satan“ USA aufs tiefste. Carter mußte abtreten, und mit ihm war das Politikmuster der „Zurückhaltung“ der USA zu Ende.

Reagan betonte immer wieder, der Niedergang der USA sei eben das Ergebnis der „Zurückhaltung“. Er forderte, die USA müßten auf der Weltszene eine harte Haltung einnehmen. Er prangerte das Reich des Bösen an, machte dem Trilateralismus ein Ende und unterstützte aggressiv subversive Bewegungen in den Ländern der Dritten Welt, die als unfreundlich galten. Der Machismo war jedoch im Kern unecht, da es niemals zu einem ernsthaften militärischen Engagement kam. Ganz im Gegenteil: Die USA zogen sich fluchtartig aus dem Libanon zurück, als über 200 Marineinfanteristen bei einem Bombenattentat ums Leben kamen. Die einzig signifikante Änderung der Politik unter Reagan war ein militanter Keynesianismus: die Aufrechterhaltung der US-Wirtschaft durch massive Verschuldung im Ausland und Besteuerung der Armen im eigenen Land. Jedem auf der Welt, selbst den Amerikanern, war klar, daß dieses Kartenhaus keinen Bestand haben könnte. Die Reagan-Politik bemühte sich nicht darum, den Niedergang der Produktivkraft der Vereinigten Staaten gegenüber Westeuropa und Japan zu bekämpfen, sondern verschlechterte die Lage noch. Der Pseudo- Machismo hatte für die Struktur der US-Weltordnung drei Katastrophen zur Folge.

Die erste Katastrophe war das Ende der Hoffnung auf eine signifikante wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung in der Dritten Welt (wozu nach ökonomischen Begriffen auch der Sowjetblock gehört). Der vorübergehende Wirtschaftsaufschwung der siebziger Jahre – der Preisanstieg für Opec-Öl schaffte die Voraussetzung für massive neue Kreditnachfrage bei den durch die hohen Energiepreise in Zahlungsbilanzdefizite gerutschten ölabhängigen Ländern der Dritten Welt und ebenso das reichhaltige Kreditangebot unter anderem durch die Petrodollarbesitzer – endete mit der Schuldenkrise. (Im allgemeinen wird die Ansicht vertreten, zum ersten Mal sei sie 1982 in Mexiko in Erscheinung getreten; genauer wäre Polen 1980.) Der Niedergang des Dollars trat – nach seiner künstlichen Aufblähung durch den militanten Keynesianismus – in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre ein.

Die zweite Katastrophe war das Phänomen Gorbatschow. Als Gorbatschow erkannte, daß das US-System zerbröckelte und nicht mehr die Kraft aufbrachte, die Sowjetunion mittels der künstlichen Spannung des Kalten Krieges zu unterstützen, und als er einsehen mußte, daß die Sowjetunion der gleichen ökonomischen Katastrophe gegenüberstand wie die Dritte Welt, versuchte er, mit einer dreifachen Strategie zu retten, was zu retten war. Er liquidierte allein und sehr erfolgreich den Kalten Krieg. Und er entledigte sich des inzwischen nutzlosen und belastenden sowjetischen Quasi-Imperiums in Osteuropa. Damit soll nicht abgeleugnet werden, daß die Völker dieses Quasi- Imperiums für ihre eigene Befreiung gekämpft hätten. Aber sie hatten auch schon früher gekämpft – (1953 in Ostdeutschland, 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei und 1956 und 1980 in Polen), jedoch immer ohne Erfolg: wegen des militärischen Eingreifens der Sowjetunion und der US-Politik der Nichtintervention. 1989 hatte sich nur eines geändert: Die Sowjetunion hatte deutlich gemacht, sie werde militärisch nicht intervenieren. Als drittes – und mit dem geringsten Erfolg – versucht Gorbatschow, die Sowjetunion als politisch lebensfähigen Staat zu rekonstruieren. Das Gorbatschow-Phänomen steht für einen Zusammenbruch der US-Weltordnung, weil es die US-Politik ihrer sowjetischen Abschirmung und ihrer Rechtfertigung beraubt.

Die dritte und größte Katastrophe war die irakische Invasion in Kuwait. Saddam Hussein unternahm dieses Wagnis aufgrund der beiden vorhergegangenen Katastrophen des US-Systems: der Schuldenkrise der peripheren Länder und damit des Verlusts der Hoffnung auf die traditionellen Wege nationaler Entwicklung (einschließlich der chinesisch/vietnamesisch/algerischen Variante); und des Aufstiegs Gorbatschows. Saddam Hussein konnte der US-Politik trotzen, gerade weil er wußte, daß sich die Sowjetunion nicht auf seiner Seite engagieren würde – daß es daher zu keiner US-sowjetischen Beilegung des Konflikts kommen würde, der er hätte zustimmen müssen. Saddam Hussein wußte, daß er die USA in eine Ecke gedrängt hat. Er hatte eine fünfzigprozentige Chance auf Erfolg (und Überleben), die USA dagegen mußten mit hundertprozentiger Sicherheit verlieren. Wenn die USA nichts täten, hätte der Irak gewonnen und die USA wären als Papiertiger entlarvt. Wenn die USA einen Krieg begännen, könnte der Irak zerstört werden – aber die politischen Folgen für die USA (und ihre nahöstlichen Verbündeten) würden sich als überaus verhängnisvoll erweisen.

Die Krise am Persischen Golf ist die erste echte militärische Nord-Süd-Konfrontation. Es wird nicht die letzte sein. Mit dem Eintritt in eine posthegemoniale Ära befinden wir uns in einer auf doppelte Weise bipolaren Welt. Wirtschaftlich und politisch bewegen wir uns auf die Bildung zweier Nord-Zentren zu: einem US-japanischen Kondominium (einschließlich China) und einer europäischen Konföderation (einschließlich Rußland). Beide Giganten kämpfen um den ökonomischen Kuchen des frühen 21. Jahrhunderts und stehen zugleich gemeinsam dem Süden in zahlreichen Konfrontationen gegenüber. In diesem drohenden Konflikt könnte der Süden gerade aufgrund seiner zunehmenden wirtschaftlichen Schwäche mehr und mehr zu offen militärischen Formen des Konflikts greifen. Und wenn das geschieht, werden Atomwaffen eingesetzt werden.

Immanuel Wallerstein ist Direktor des Ferdinand Braudel Center an der State University of New York, Binghamton