Ein umfangreiches Programm

■ Dublin 1991 — die diesjährige Kulturhauptstadt Europas läßt ihre georgianischen Viertel verfallen

Die irische Hauptstadt hat am Silvesterabend mit einer Glockenkette zwischen der Kathedrale „Christ Church“ und dem Rathaus das Jahr der „Europäischen Kulturhauptstadt“ eingeläutet. Dublin ist die siebte Stadt, die diesen Titel trägt — nach Athen, Florenz, Amsterdam, Berlin, Paris und im vergangenen Jahr Glasgow. Der für die Organisation des Kulturjahres verantwortliche Lewis Clohessy hat ein Programm mit über zweihundert — mehr oder weniger großen — Ereignissen auf die Beine gestellt, darunter eine Ausstellung expressionistischer Malerei und „entarteter Kunst“ der Berlinischen Galerie im Gebäude der wiedereröffneten Municipal Gallery. Der offizielle Startschuß für die „European City of Culture“ fällt am 16. März, wenn Kultusminister aus anderen europäischen Ländern und Vertreter der bisherigen Kulturhauptstädte an einem Galakonzert in der National Concert Hall teilnehmen werden, die in diesem Jahr eine neue Orgel im Wert von 2,5 Millionen Mark erhält. Einer der Höhepunkte des Kulturjahres ist die Eröffnung des „Irischen Museums für moderne Kunst“ im Royal Hospital Kilmainham Anfang Mai. Das Krankenhaus wurde unter Charles II. als Heim für verwundete oder pensionierte britische Soldaten gebaut. Nachdem es jahrzehntelang vor sich hin gammelte, wurde es schließlich renoviert und 1985 als „Nationales Zentrum für Kultur und Kunst“ neueröffnet.

Das offizielle Dublin ist stolz auf seine georgianische Architektur. Verschiedene Veranstaltungen und Ausstellungen sollen den „eleganten Lebensstil des georgianischen Dublin“ illustrieren. Die Wirklichkeit jedoch sieht anders aus. Ein Spaziergang durch die irische Hauptstadt gleicht einem Wechselbad. Neben prachtvollen Gebäuden wie dem Gerichtspalast „Four Courts“ und dem renovierten Zollhaus am Hafen stehen abbruchreife Häuser. Brachflächen dienen als temporäre Parkplätze. Das Kernstück Dublins, die Kais an der Liffey, verrotten. Hier standen einige der frühesten georgianischen Häuser. Noch vor zwanzig Jahren war diese innerstädtische Promenade intakt. Doch die Pläne, an den Kais ein Einkaufszentrum samt Busdepot zu errichten, lockten Grundstücksspekulanten in das Viertel, die es ruinierten und ein Werk der Zerstörung hinterließen: Die Baupläne wurden nie verwirklicht.

Im offiziellen Programm heißt es: „Dublin ist hauptsächlich eine Stadt georgianischen Charakters, obwohl die Stadt auch eine Reihe anderer architektonischer Einflüsse enthält. Für viele ist die typische georgianische Tür sogar das inoffizielle Symbol Dublins.“ Doch die Stadtverwaltung unternimmt nichts, um den Verfall der „inoffiziellen Symbole“ aufzuhalten. In ihrem Jahresetat sind lediglich 60.000 Pfund (ca. 150.000 Mark) vorgesehen, um die Renovierung historischer Gebäude in Privatbesitz zu subventionieren. Das reicht nicht mal, um eins der verfallenden Häuser zu retten.

Die geplante mehrspurige Tangente durch das alte Dubliner Arbeiterviertel „Liberties“ wird eine weitere Zerstörung historischer Bausubstanz mit sich bringen: Wohnhäuser in der Capel Street aus dem 18. Jahrhundert mit grandiosen Treppenhäusern und Stukkaturen von filigraner Ornamentik müssen der Pendlertrasse weichen. In der Innenstadt leben nur noch 80.000 Menschen. Die Bewohner sind in die Vororte abgewandert. Der Stadtplaner Lewis Mumford nannte diese Satellitenstädte „Wurmfortsätze von Einkaufszentren“. Der neuen Straße wird auch ein Hauptquartier der Rebellen des Osteraufstands 1916 in der Ardee Street zum Opfer fallen. Das hindert die Stadtverwaltung jedoch nicht daran, den 75. Jahrestag des Aufstands im März pompös mit Ausstellungen, Filmen und einem historischen Straßenfestspiel zu feiern.

Und ein weiterer Gegensatz: Im Veranstaltungsprogramm wird mit einem Foto des homosexuellen Schriftstellers Oscar Wilde auf Dublin als Stadt der Literaten hingewiesen. Würde der Dichter heute in Dublin leben, so wäre er in den Augen des Gesetzes ein Kapitalverbrecher: Homosexualität ist nach einem Gesetz von 1861 noch immer verboten, obwohl der Europäische Gerichtshof in Straßburg die irische Regierung bereits 1988 zur Aufhebung dieses Gesetzes verurteilt hat.

Die Literatur spielt bei den Feierlichkeiten eine große Rolle. Immerhin hat Dublin drei Literatur-Nobelpreisträger hervorgebracht. Am 30.Mai wird am Parnell Square in der Innenstadt das „Dubliner Schriftstellermuseum“ eröffnet. Neben seltenen Büchern und Erstausgaben sollen dort auch Gegenstände aus dem Nachlaß berühmter Dubliner Dichter ausgestellt werden. Interessanter ist jedoch das Nebengebäude: Dem Museum ist ein „Living writers' centre“ angeschlossen, das Schriftstellern Arbeitsmöglichkeiten bieten und als Begegnungsstätte dienen soll. Die Fremdenverkehrszentrale läßt sich das Projekt 1,25 Millionen Pfund kosten.

Am „Bloomsday“, dem 16. Juni, ehrt die Stadt ihren größten Dichter, James Joyce, mit einer Marathonlesung aus seinem Roman Ulysses, die 31 Stunden dauern und im irischen Rundfunk in voller Länge übertragen wird. Das Wohnhaus der Romanhelden Leopold und Molly Bloom in der Eccles Street ist freilich längst der Abrißbirne zum Opfer gefallen. Dasselbe Schicksal wird noch in diesem Jahr das an „Usher's Island“ gelegene Haus ereilen, in dem Joyce' Erzählung Die Toten spielt. Zum Trost gibt es im Juni ein zweiwöchiges Literaturfestival zu Joyce' Ehren, dessen Todestag sich 1991 zum fünfzigsten Mal jährt.

Kritiker warfen den Organisatoren des Kulturhauptstadt-Jahres vor, daß der Titel lediglich als Rahmen für ohnehin stattfindende Ereignisse diene: Das Filmfestival Ende Februar, die Parade zu Ehren des Schutzheiligen St. Patrick im März, der Klavierwettbewerb Ende April, das Straßenfestival Ende Juni, die Theaterfestspiele im Oktober — alljährliche Standardereignisse. Lewis Clohessy sagte jedoch: „Meine Philosophie ist es, unsere kulturelle Ausstellung für Europa auf Dingen aufzubauen, die wir ohnehin tun. Wenn wir ein völlig künstliches Festjahr in brandneuer kultureller Umgebung schaffen würden, wäre das eine Torheit und keineswegs Teil von Dublins normaler Kultur.“ Außerdem wies Clohessy auf die schlechte Finanzlage hin. Er erhielt von der Stadtverwaltung lediglich 2,5 Millionen Pfund (ca. 6,75 Millionen Mark). Im Vergleich dazu bekam Berlin als Kulturhauptstadt Europas 1988 55 Millionen DM aus öffentlichen Mitteln.

Die meisten Stadträte gratulierten Clohessy denn auch zu seinem trotz knapper Finanzmittel umfangreichen Programm. Doch es gab auch aus diesen Reihen Kritik. Stadtrat Peter Bourke sagte, das Programm sei auf die „kulturelle Elite“ zugeschnitten: „Es gibt wenig für die jungen Leute und überhaupt nichts für die Alten, die diese Stadt zusammengehalten haben.“ Seine Kollegin Mary Hanafin gab ihm recht und wies auf den internationalen Erfolg irischer Rockmusiker wie U2 und Sinead O'Connor hin: „Ich bin etwas beunruhigt, daß das Wort ,Jugendkultur‘ bisher überhaupt noch nicht erwähnt worden ist.“ Dabei sind es gerade U2, die der Stadtverwaltung den rechten Weg weisen könnten: Die Gruppe hat vor kurzem ein viktorianisches Lagerhaus gekauft und es behutsam renoviert. Das Gebäude wird den Musikern künftig als Büro dienen. Ralf Sotscheck

und Jürgen Schneider