Chile: „Das Erbe der Diktatur wirkt fort“

Auch nach zehn Monaten Demokratie sitzen Chiles politische Gefangene weiter im Gefängnis/ Regierung Aylwin verzögert versprochene Freilassungen/ Folterer aus der Pinochet-Zeit sind weiter aktiv/ Öffnen sich die Knasttore im April?  ■ Aus Santiago Gaby Weber

279 politische Häftlinge gibt es noch in Chile, und das Jahr 1990 ging zu Ende, ohne daß das Christkind ihnen die Pforten geöffnet hätte. Als im März des vergangenen Jahres der Christdemokrat Patricio Aylwin nach 16 Jahren Diktatur die Regierung übernommen hatte, hatte er zwar einen Heiligen Abend ohne politische Gefangene versprochen. Doch auch die demonstrierenden Weihnachtsmänner mit ihren roten Wintermänteln und den langen weißen Bärten, die im Dezember bei Temperaturen von über 30 Grad und strahlender Sonne auf der „Plaza de Armas“ die Glocken läuteten, konnten dies nicht mehr durchsetzen.

Das Problem, erklärt Justizminister Francisco Cumplido der taz gegenüber, seien die Mehrheitsverhältnisse im Senat. Aufgrund der staatlich ernannten Senatoren besitze die Rechte im Oberhaus die Mehrheit und könne alle Regierungsprojekte blockieren. Die Gewissensgefangenen, denen keine Kapitalverbrechen zu Last gelegt wurden, seien bereits im März begnadigt worden. Um auch für die Verbleibenden eine Lösung zu finden, hatte er einen Gesetzesvorschlag erarbeitet — das sogenannte „Cumplido-Gesetz“. Danach sollen sich die als „Terroristen“ Verurteilten erneut vor einem Zivilgericht verantworten, jedes verbüßte Jahr Gefängnis sollte im Falle der Verurteilung dreifach angerechnet werden. „Da die Reduzierung der Strafandrohung im Senat scheiterte, benötigen wir jetzt eine Verfassungsreform, damit der Präsident die nach dem Terroristengesetz Verurteilten begnadigen kann“, sagt Cumplido, „wir brauchen also einen politischen Kompromiß, damit spätestens im April die politischen Häftlinge ihre Freiheit erlangen können.“

Die Regierung habe nicht alles in ihrer Kraft stehende getan, glaubt jedoch Rechtsanwalt Fernando Zegers von der Menschenrechtsorganisation CODEPU. Gewiß, die Rechte habe der Amnestie im Senat ihre Zustimmung verweigert, denn sie möchte dafür Straffreiheit für die Menschenrechtsverletzungen der Militärs durchsetzen. Aber der Gesetzesvorschlag schlummerte ein halbes Jahr im Abgeordnetenhaus, wo die Regierung über eine satte Mehrheit verfügt, ohne daß das Projekt mit dem Stempel „dringlich“ versehen wurde. Wahrscheinlich sei, daß die Regierung die Gefangenen als Verhandlungsmasse bei den Mauscheleien mit der Rechten benutzt. Man wolle wohl den Bericht der Kommission „Wahrheit und Versöhnung“ über sechzehn Jahre Menschenrechtsverletzungen abwarten, um danach das Thema mit einem Schlußstrich in der Schublade verschwinden zu lassen.

Die Regierung betreibe keine konsequente Menschenrechtspolitik, kritisiert Ren Garcia Villegas. Er war wegen seiner Ermittlungen gegen Folterer vom Obersten Gerichtshof, dem Corte Suprema, „unehrenhaft“ aus der Richterschaft ausgeschlossen worden. Heute bezieht er eine Rente von umgerechnet 600 Mark. „Die christdemokratische Regierung sorgt sich nur um Stabilität und ihr eigenes Verbleiben an den Schalthebeln der Macht, nicht um Gerechtigkeit.“ In den 16 Jahren Diktatur war nicht ein einziger Folterer verurteilt worden. Der Oberste Gerichtshof hatte stets argumentiert, daß die Militärjustiz für diese Vorwürfe — da „im Dienst“ begangen — zuständig sei. Und dort wurde natürlich nie ermittelt. Statt den Corte Suprema auszumisten, sorgt Aylwin auch dort für Kontinuität. Ende Dezember ernannte er ein neues Mitglied, Adolfo Baados Cuadra, der in seiner Antrittsrede keinen Zweifel an seiner Gesinnung aufkommen ließ: „Die Kritik an unserer Justiz hat politische Hintergründe.“

Vom Cumplido-Gesetz werden ausschließlich diejenigen profitieren, die Straftaten vor dem 11. März 1990 begangen haben. Wer gegen die Regierung Aylwins bewaffnet kämpft — etwa die jungen Leute der „Lautaro-Bewegung“ —, den trifft die volle Härte des Gesetzes und — immer noch — die Folter. Obwohl CODEPU in den letzten Wochen in 13 Fällen Anzeige erstattet hat, blieb die Regierung untätig und klagte niemanden an, so Rechtsanwalt Zegers.

Im Gegensatz zu früher, als zahlreiche Menschenrechtsgruppen sich um die Gefangenen kümmerten, haben es heute die „Lautaros“ schwer, einen Rechtsbeistand zu finden. Fast alle linken Anwälte weigern sich, die Verteidigung zu übernehmen, auch CODEPU-Anwalt Zegers: „Ihre Aktionen begünstigen objektiv Pinochet, die Anwendung von Gewalt ist für die Linke immer ein äußerst delikates Problem. Im heutigen Chile kann sich niemand auf das legitime Recht der Rebellion berufen.“

Es gebe bis heute die Folter, räumt der Justizminister ein. Es sei schwierig, von heute auf morgen mit der Allmacht der Militärs aufzuräumen. „Obwohl wir wachsam sind und die gesamte Führungsriege der Sicherheitskräfte ausgetauscht haben, wirkt das Erbe der Diktatur fort. Es gibt immer noch Leute, die sich an die Anwendung der Folter gewöhnt haben.“

Die politischen Gefangenen wird das wenig trösten. Die Haftbedingungen sind inzwischen sehr großzügig: Ehefrauen und Freundinnen können ihre Partner im Gefängnishof in „Zelten“ besuchen, die vor neugierigen Blicken schützen — die weiblichen Gefangenen allerdings besitzen dieses Privileg nicht. Besucher können ungehindert ein und aus gehen. Sie müssen sich lediglich ausweisen und Taschen und Wertgegenstände bei „Großmutter“ — wie sie genannt wird — abgeben. Seit vielen Jahren sitzt sie vor der Pforte auf den Taschen und schickt mit jedem Besucher zwei Bonbons hinter die Gitter.

Silvia Aedo hat mit den drei Kindern ihren Mann besucht. Er sitzt seit zehn Jahren in Haft. Das MIR-Mitglied Hugo Marchant war wegen eines Attentats auf einen General erst zum Tod und dann zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Javiera und Pablo hatte er Fußbälle geschenkt, dem ältesten, Simon, ein Gedicht. Auch Silvia hatte zusammen mit den beiden jüngsten Kindern einige Monate im Verhörzentrum des Geheimdienstes verbracht.

„Nein, ich bin nicht enttäuscht“, sagt Silvia Aedo, „von dieser Regierung habe ich gar nichts anderes erwartet.“ Die Politiker seien mit der Fahne der Menschenrechte auf Stimmenfang gegangen, aber sie habe ihnen nicht vertraut, als sie hoch und heilig versprachen, daß das Jahr 1991 ohne politische Gefangene beginnen würde. Ob die Regierung diesmal ihr Versprechen hält und im April die Pforten öffnet? „Kann schon sein“, meint Silvia, „aber was erwartet sie danach? Die Verbannung?“