DOKUMENTATION
: Die Ära Shamir vor dem Ende

■ Unter den Scuds entstand ein neues Israel

Die neue amerikanische Ordnung für den Mittleren Osten kam mit den amerikanischen Soldaten, die die Patriot-Raketen bedienten. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte haben die Israelis implizit auf ein für die Existenz des Staates Israel fundamentales Dogma verzichten müssen: die Fähigkeit und die Notwendigkeit für die Juden, sich allein gegen die äußeren Feinde zu verteidigen. In einer immer stärker „globalisierten“ Welt, wo Grenzen weniger zählen, hatten die amerikanischen Soldaten, die im versprochenen Land angekommen waren, die symbolische Funktion von Polizisten, die die Juden gegen ein Pogrom schützten.

Und das Überraschende war die Reaktion der Israelis gegenüber den „Rettern“. Der Enthusiasmus der Menschen bewies eine gewisse Reife des Volkes von Zion, eine Reife, die ein grenzenloses Vertrauen in den „anderen“, den nicht-jüdischen „Polizisten“ erlaubte. Die Geschichte mit den Scuds hat die israelischen Juden mit der Welt wieder versöhnt. Oder besser: Sie hat die Juden in einen internationalen Kontext zurückgeführt, aus dem diese als Konsequenz des Antisemitismus im 19. Jahrhundert und der Shoah herausgeworfen worden waren.

Antisemitismus und Zionismus

Zur Erklärung: Sowohl der russische Antisemitismus als auch der in Westeuropa, wie er im Fall Dreyfus zum Ausdruck kam, brachten als Reaktion den Zionismus hervor. Die Juden in Rußland spürten die Notwendigkeit, sich zu verteidigen und waren zugleich zur Emigration gezwungen, während im Westen Theodor Herzl, der Führer und Erfinder des „politischen“ Zionismus, der Ansicht war, die Emigration müsse auf ein politisches Ziel gerichtet werden, eben die Schaffung des jüdischen Staates. Um es genauer zu sagen, die Selbstverteidigung der Juden, die von den radikalen Kräften der damaligen Zeit — und nicht nur den Zionisten — organisiert wurde, bedeutete ein totales Mißtrauen in den Apparat und die Ordnung der Staaten, in denen die Juden lebten.

Die Shoah und die Passivität der Welt angesichts der Vernichtung des jüdischen Volkes schienen die Intuitionen des Zionismus zu bestätigen. Eine solche Sicht der Welt wurde jetzt in die noch koloniale Realität des Mittleren Ostens verpflanzt und verstärkte sich weiter. Israel ist allein, und das einzige Mittel, seine Anerkennung zu gewährleisten, besteht in der Kraft seiner Waffen und seiner Fähigkeit zur Abschreckung: Das ist die herrschende Doktrin.

Das Ende der israelischen Abschreckungsdoktrin

Heute, nach dem Dritten Weltkrieg, und genau das war der Golfkrieg, ist diese Doktrin tot. Gewiß, für die Antiimperialisten war Israel seit je nichts anderes als die longa manus des Imperialismus. Für die Israelis dagegen liegen die Dinge anders. Es trifft wohl zu, daß die von Ben Gurion geprägte Doktrin wollte, der jüdische Staat solle jeweils die Allianz mit der vorherrschenden Macht suchen. Aber es handelt sich eben um eine Allianz und nicht um eine organische Beziehung. Und eben diese Doktrin setzte die Fremdheit Israels gegen seine Nachbarn voraus und predigte folgerichtig die Notwendigkeit, mit dennicht arabischen Staaten der Region Bündnisse zu schließen. Diese Dogmen sind heute überholt.

Die symbolische Dimension des Krieges

Als der Golfkrieg ausbrach, befand sich Israel das erste Mal in seiner Geschichte nicht im Zentrum eines mittelöstlichen Konflikts. Bis jetzt ging der Kampf um die Kontrolle über die Region immer über den israelisch- arabischen Konflikt. Nun nahm die Auseinandersetzung zum ersten Mal die Gestalt eines innerarabischen Konflikts an. Deshalb gab es für Israel keinen anderen Weg als den amerikanischen Verbündeten durch Stillhalten zu unterstützen. Vielleicht hätte diese Situation keine weiteren Konsequenzen gehabt, hätte nicht Saddam Israel in der Hoffnung angegriffen, den Konflikt in die gewohnten Bahnen zu lenken - und dabei nicht die Armee, sondern die Zivilbevölkerung von Tel Aviv zur Zielscheibe gemacht.

Für Israel nahm der Golfkrieg auf symbolischer Ebene eine tragischere Bedeutung an. Die Israelis durchlebten erneut eine traumatische Erfahrung: den Schrecken der Vernichtung. Und die Bedrohung durch das (deutsche) Giftgas tat ein übriges zur Verstärkung dieser Symbolik. Die nach der alten Logik automatische Reaktion, Krieg oder zumindest schwerste Repressalien, war aufgrund der politischen Konstellation unmöglich. Israel mußte sich mit der von den USA geführten Allianz abstimmen. Sein Schicksal lag nicht mehr in der Hand des Pioniers und Kriegers, der bereit ist, sein Volk zu verteidigen, sondern in der der internationalen Allianz. Angesichts der globalen Dimensionen des Krieges wurde die „Besonderheit“ Israel tatsächlich nur ein Teil des größeren Rahmens, innerhalb dessen die Kräfte der Allianz operierten.

Eine kleine Parenthese. Es hat sich in diesem Konflikt gezeigt, daß die Sabra, also die Israelis, die in Palästina geboren sind und von denen eine bestimmte Lesart immer behauptete, sie seien „stark, verwurzelt, ohne Minderwertigkeitskomplex und mutig“, zu denen gehörten, die die überstürzte Flucht aus dem bombardierten Tel Aviv anführten. In den Hotels von Jerusalem saßen die Sabra mit blonden Haaren und breiten Schultern während des Bombenalarms in ihren versiegelten Zimmern und ließen sich nicht selten von Panik erfassen. Der Sabra hat seine Sicherheit und seinen Stolz verloren. Es zeigte sich, daß er ein Wesen ohne wirkliche, tiefgreifende Verwurzelung ist. In Tel Aviv geblieben waren dagegen die jüdischen Immigranten aus der Diaspora. Sie waren da, gewiß nicht besonders beruhigt, aber auch nicht terrorisiert, gewohnt an ein Leben in Gefahr.

Die Notwendigkeit einer neuen politischen Klasse

Eine der Konsequenzen aus dem Schock, den dieser Krieg auslöste, muß das Entstehen einer neuen leadership in Israel sein. Sie darf nicht mehr auf die Mythen und Doktrinen fixiert sein. Und vielleicht kann man, mit ein wenig Optimismus, tatsächlich schon Ansätze erkennen. Die beiden neuen politischen leader, die in diesem Krieg hervorgetreten sind, haben einen sephardischen Ursprung, der eine aus Marokko, der andere aus dem Irak. Der erste ist David Levy, führender Funktionär des Likud und Außenminister. Der andere Moshe Shahal, Anwalt und Abgeordneter der Arbeiterpartei.

Levy ist ein Ex-Falke, der, wie es ein Kommentator in Jerusalem gesagt hat, „das Metier der Taube noch nicht beherrscht“. Aber während des Golkriegs hat er es versucht. Seine These: Aus dem Krieg muß ein Friedensplan resultieren. Und man muß mit den Palästinensern reden.

Shahal, einer der brillantesten Anwälte Israels, geht noch weiter. Gegen Kriegsende lancierte er die Formel: „Israel muß das Prinzip des Palästinenserstaates anerkennen und mit jedem den Dialog suchen, der den jüdischen Staat anerkennt.“ Das ist de facto eine Anerkennung der PLO als Verhandlungspartner.

Es ist interessant zu sehen, daß Levy und Shahal wenig oder gar nichts mehr mit der traditionellen Figur des israelischen Politikers, „polnischer“ oder „russischer“ Herkunft zu tun haben, der einen radikalen Bruch mit der Diaspora und folglich mit der äußeren Welt vollzogen hatte. Jetzt wird die Welt der Nicht- Juden wieder in Betracht gezogen. Wie in der Diaspora. Das drückt sich auch in ihrem äußeren Habitus aus. Wenn Levy konsequent Blazer und Krawatte trägt, dann kommt darin auch zum Ausdruck, daß er sich vom Bild des etwas groben und harten Pioniers absetzt; es zeigt die Rückkehr des Bürgers an, der in die zivile Welt integriert ist.

Während des Golfkriegs haben die Israelis begriffen, daß sie ein Teil der Welt um sie herum sind und daß sie unter ähnlichen Bedingungen leben wie die Juden der Diaspora: zwar eine Mehrheit in Palästina, aber als Minderheit im Mittleren Osten. Und jetzt, im Frühjahr 1991, hat man in Tel Aviv den starken Eindruck, daß die Welt des Itzhak Shamir und der Gründungsväter definitiv zu Ende gegangen ist. Jetzt geht es darum, dieses Gefühl in Politik zu übersetzen. Das bedeutet: die alten politischen Formationen, die alten Parteien, sind obsolet geworden. Für eine neue Welt muß man auch neue politische Instrumente finden. Wlodek Goldkorn

Der Autor ist Journalist beim italienischen

L'Espresso. Übersetzung: Ulrich Hausmann