Was macht es schon, wenn es ein paar weniger sind...

■ Wenn im Norden über Ursachen und Hintergründe von Naturkatastrophen berichtet wird, fehlt nie der Hinweis auf die „Bevölkerungsexplosion“ im Süden

Zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage werden große Landstriche in Bangladesch überschwemmt, ertrinken erneut Menschen — oder sterben an den Folgen der ersten Katastrophe, an Hunger oder Seuchen. Seit Tagen ist in fast jeder Zeitung zu lesen, daß die Ursachen der Überschwemmungen hauptsächlich ökologischer Natur sind und überwiegend nicht in Bangladesch selbst verursacht wurden. Die schlimmsten Folgen hätten sich vermeiden lassen, wenn es entsprechende Flutschutzmaßnahmen gäbe und die Menschen in den gefährdeten Regionen rechtzeitig evakuiert würden.

Wenn aber hierzulande über Bangladesch berichtet wird, dann geht das in der Regel nicht ohne den Verweis auf die „Bevölkerungsexplosion“. Die Bilder von dichtgedrängten Menschenmassen und die Zahlenangaben von Besiedlungsdichte und Geburtenraten ergänzen die aktuelle Berichterstattung über die Flutkatastrophe, über Armut, Hunger und Krankheiten. Auch aus anderen Erdteilen werden ähnliche Bilder über die Bildschirme geschickt — egal, ob es um die Cholera-Epidemie in Lateinamerika geht oder um die Ausbreitung von Aids oder Hunger in Afrika. Das assoziative Nebeneinander von „Überbevölkerung“ und massenhaftem Sterben stellt beim Fernsehpublikum oder den ZeitungsleserInnen „ganz von selbst“ Gedankenverbindungen her: die Naturkatastrophe, die Epidemien als eine „Lösung“ — oder zumindest als Mittel zur Linderung des „Bevölkerungsdrucks“, aber eben auch als dessen unausweichliche Folge. Das Vokabular, in dem über die Opfer gesprochen und geschrieben wird, legt die Assoziation an einen Ameisenhaufen nahe: Was macht es schon, wenn es ein paar weniger sind...

'Die Zeit‘ geht in ihrer neuesten Ausgabe noch einen Schritt weiter. Auf fast einer ganzen Seite der großformatigen Wochenzeitung schildert Gabriele Venzky Auswirkungen und Hintergründe der Sturmflut. Dabei weist sie in einem Artikel gleich dreimal darauf hin, daß die Überbevölkerung Bangladeschs größtes Problem sei und das Land „nur gesunden (könne), wenn es gelingt, die Bevölkerungsexplosion in den Griff zu bekommen“. Dazu, so heißt es am Ende, „bedarf es einer konsequenten, auch unpopulären Politik“. Was damit gemeint ist, lanciert Venzky im zweiten Artikel auf derselben Seite. Unter dem Titel „Am Ende das Chaos. Die Folgen der Bevölkerungsexplosion“ geht es jetzt nicht mehr um Überschwemmungen und die unzureichenden Schutzmaßnahmen dagegen, sondern nur noch um das Bevölkerungswachstum. Nachdem die Autorin in reichlich 30 Zeilen vorgerechnet hat, daß die Erde aus den Nähten platzt, mahnt sie schließlich, daß auch auf bevölkerungspolitische Zwangsmaßnahmen nicht verzichtet werden dürfe. Das steht da so, am Ende ihrer Ausführungen, in denen sie in drastischen Worten und gespickt mit Zahlen den drohenden Untergang nicht nur Bangladeschs in den Fluten, sondern der gesamten Menschheit im Chaos prophezeit hat. So plaziert erscheint diese Forderung ganz selbstverständlich, wenn nicht — angesichts der Katastrophe — geradezu humanitär. Obwohl es, wie uns Venzky schon im nächsten Satz versichert, um Humanität nicht gehen kann: „Es wird nämlich zu einem fragwürdigen Unterfangen, Menschenrechte einzuklagen, wenn ein würdiges Leben nicht mehr möglich ist, weil es einfach zu viele Menschen gibt.“ Auch die Frage, welche Menschen auf der Erde zuviel sind, wird in dem Artikel beantwortet: diejenigen, die in den Entwicklungsländern leben. Vermutlich geht Venzky die Forderung nach Zwangsmaßnahmen auch nur deswegen so locker aus der Feder, weil völlig klar ist, daß sie nicht gegen weiße EuropäerInnen gerichtet sind. Das braucht gar nicht betont zu werden, sondern versteht sich im rassistischen Weltbild von selbst.

Was soll man sich unter „Zwangsmaßnahmen“ in der Familienplanung vorstellen, wenn nicht Zwangssterilisationen? In Bangladesch sind solche „Maßnahmen“ nur allzu bekannt. Vor wenigen Jahren noch hat das Militär dort Zwangssterilisationskampagnen durchgeführt — unter finanzieller Beteiligung internationaler Entwicklungshilfeorganisationen, deren mangelnde Effizienz Venzky in dem Artikel ebenfalls beklagt. Und auch die „freiwilligen“ Sterilisationen kamen oft nicht ohne Druckmittel zustande. Die Prämien, die als Anreiz für Sterilisationen gezahlt wurden, sind in der Zeit vor der Reisernte, wenn die Nahrungsmittel knapp wurden, heraufgesetzt worden — mit dem Ergebnis, daß die Zahl der „Sterilisationswilligen“ sich in diesen Monaten verdoppelte, weil die Leute keinen anderen Ausweg aus der Not wußten.

Aufgrund zahlreicher Proteste ist diese Praxis inzwischen eingestellt worden. Jetzt fordert Venzky, Zwangsmaßnahmen wieder einzuführen und den Frauen und Männern in Bangladesch die Menschenrechte abzusprechen, da „die schiere Masse zu einer Gefahr für das Land selbst ... aber auch für die Außenwelt“ würde (Venzky im Berliner 'Tagesspiegel‘ vom 11.5.1991).

Seit einiger Zeit ist es geradezu „in“, unter Verweis auf die „Bevölkerungsexplosion“ vor dem drohenden ökologischen Kollaps auf der Erde zu warnen. 'Die Zeit‘ hat sich dies in besonderem Maße zur Aufgabe gemacht. Der Weltbevölkerungsbericht der UNO wurde gleich nach Erscheinen auf der ersten Seite der 'Zeit‘ von Horst Bieber analysiert. Anläßlich des Weltkindergipfels berichtete 'Die Zeit‘ (am 12.10.90) über den makabren Vorschlag, zukünftig auf Impfkampagnen und Seuchenbekämpfungsmaßnahmen in der „Dritten Welt“ zu verzichten, da der Planet ohnehin schon überbevölkert sei. Auf speziellen Wunsch des Herausgebers Bucerius hat schließlich zu Beginn des Jahres Michael Sontheimer ein zweiteiliges Dossier zu dem Thema verfaßt. Auch er hat darin, ebenso wie Venzky in bezug auf Bangladesch betont, wie dringend es sei, daß der Norden gegen den „Bevölkerungsboom“ auf der südlichen Halbkugel energisch vorgehe.

Nicht immer, wenn die „Bevölkerungsexplosion“ analysiert wird, geschieht das mit solch rabiat-zynischen Forderungen wie bei Venzky, aber fast immer mit dem gleichen argumentativen Trick. Daß es der verschwenderische Umgang mit den Ressourcen in den industrialisierten Ländern ist, der weltweit irreparable Umweltschäden bewirkt, wird — entsprechend dem Trend zum aufgeklärten Ökobewußtsein — überall hervorgehoben. Trotzdem: Wenn es darum geht, praktische Konsequenzen und eine sofortige Umkehr zu fordern, ist fast ausschließlich von dringenden Maßnahmen gegen die Überbevölkerung in der Dritten Welt die Rede. (Der Raubbau in den Industrieländern firmiert als „Umweltsünde“, der man allenfalls mit Appellen begegnet, nicht jedoch mit der Forderung nach Zwangsmaßnahmen.) Nach zwei Absätzen Selbstbezichtigung landet man immer wieder bei der „Bevölkerungsexplosion“. Und letztlich läßt sich alles, wovor sich der westliche Wohlstandsbürger fürchtet — sei es nun der Ökokollaps, Armutskriege oder Flüchtlings„ströme“ — in ein Problem von Überbevölkerung umformulieren. Wie man sowas macht, hat exemplarisch 'Geo‘ in ihrem ersten Heft in diesem Jahr (Titel: „Sprengstoff Mensch“) vorgeführt: Die Beteiligung von Frauen am eritreischen Befreiungskampf sei ebenso eine „typische Folge der Überbevölkerung“ wie der Golfkrieg. Denn „Kriege brechen letzten Endes aus, wenn zu viele Menschen um begrenzte Ressourcen konkurrieren“.

So kann man aus jedem Konflikt zwischen Ressourcen und gesellschaftlichen Bedürfnissen ein Bevölkerungsproblem machen: Es ist einfach eine Frage der Definitionsmacht. Anstatt über Verschwendung, Ausbeutung, ökonomische und politische Machtverhältnisse zu reden, analysiert man die „Bevölkerungsexplosion“. Falls nicht das kriegerische Vokabular schon deutlich genug gemacht hat, von wem die Aggression ausgeht, so tun es spätestens die Bilder, die all die Gefahren illustrieren sollen: Es sind nicht einfach irgendwelche Menschen, die den Planeten überquellen lassen. Es sind fast immer Nicht-Weiße. Susanne Heim