Tausend Jahre Angst

Rosa von Praunheims Dokumentarfilm „Stolz und schwul“ um 23.15 Uhr in West 3  ■ Aus Berlin Marc Fest

Rosa von Praunheim rätselt an seiner Veranlagung: Jahrelang galten die kinematographischen Neigungen des schwulen Filmemachers hauptsächlich charismatischen Selbstdarstellerinnen (Lotti Huber in Affengeil), Individualistinnen in Ausnahmesituationen (Überleben in New York) oder auch der eigenen Mutter (24. Stock). Kurz: Praunheim stand auf Frauen. In Stolz und schwul hat sich der umstrittene Schwulenaktivist nach langer Zeit wieder ans eigene Geschlecht herangewagt und wundert sich darüber selbst: „Vielleicht liegt das ja am Alter“, vermutet der 49jährige, der zur Zeit an seinen Memoiren schreibt. Zu seinem neuen Film porträtiert er drei schwule alte Männer zwischen 60 und 90.

Straps-Harry ist 84. Zum Interviewtermin mit Praunheim trägt er eine Perlenkette, Ohrringe und rote Strumpfhosen, seine schulterlangen Haare hat er in hellgrün gefärbt. In seiner Berliner „Dream Boys Lachbühne“ fungiert der gelernte Koch und Kellner seit einem Jahrzehnt als Transvestit, Platzanweiser und Conferencier zugleich. Dabei gibt er sich kein bißchen müde: „Mal zwei Tage kein Sex, und ich bin nicht zu gebrauchen“, prahlt der rüstige Paradiesvogel. Mit seinem sechs Jahrzehnte jüngeren Freund habe er „gar keine Probleme“. Straps-Harry schwärmt von den dreißiger Jahren in Berlin. Auf rauschenden Kostümbällen habe er, damals 20, mit schönen Männern Rumba und Charleston getanzt und sich auf der Kantstraße mit seinem Freund problemlos „abknutschen“ können. „Freier als damals geht es eigentlich gar nicht“, findet Straps- Harry heute. Die Nazis habe er ausgetrickst: Als „die Tunten plötzlich alle weggeschafft wurden“, heiratete er eine „Vorzeigefrau“ und tarnte sich als biederer Besitzer enes Nahrungsmittelbetriebes. „Ich hatte keine Angst“, behauptet der „Dream Boy“ rückblickend. Doch ein paar Sätze später enthüllt Praunheim mit seiner ungewohnt leisen und sensiblen Gesprächsführung die Narben und kleinen Lügen in Straps-Harrys bunter Welt: „Die ganzen tausend Jahre haben wir in Angst gelebt“, bekennt er.

„Wir waren verloren und verkauft“, erinnert sich der Opernsänger und Schauspieler Kurt von Ruffin, heute 92, an die neun Monate seiner Inhaftierung im Konzentrationslager Lichtenburg an der Elbe. „Die Transvestiten wurden sadistisch demontiert, und die Stricher mußten die Bewacher bedienen“, erzählt der Offizierssohn aus aristokratischem Elternhaus. Ein ebenfalls inhaftierter Schwuler hatte ihn kurz nach der Röhm-Affäre denunziert, um sich selbst zu retten. Ruffin überlebte dank des einflußreichen Direktors des Deutschen Theaters in Berlin. Kaum aus dem KZ frei, stand Kurt von Ruffin schon wieder auf der Bühne — und spielte einen Sträfling.

Weil seine Mutter Jüdin war, mußte der Opernregisseur und Frankfurter Musikprofessor Andreas Meyer-Hanno, 59, drei Jahre vor Kriegsende das Gymnasium verlassen. „Damals lernte ich einen aufrechten Gang“, erinnert er sich. Als heimlicher Schwuler gewöhnte er sich ein Jahrzehnt später den Gleichschritt an — zusammen mit seinen Männerbekanntschaften beim Treppensteigen, um so den verbotenen Besuch von den lauschenden Nachbarn zu verbergen. Denn bei jeder verdächtigen Männervisite reichte der Anruf eines mißtrauischen Obermieters, und die Sitte stand vor der Tür. Rosa von Praunheims Stolz und schwul bietet nicht die schwule Selbstbestätigungsrhetorik, die der protzige Titel verspricht. Fazit: Thema verfehlt — und gerade deshalb sehenswert.