In Algerien steigt das Wahlkampffieber

Wasserwerfer und Tränengas gegen demonstrierende islamische Integralisten in Algier  ■ Von Sabine Kebir

Berlin (taz) — Die Müllabfuhr funktioniert seit Wochen nicht mehr. Nicht nur immer wieder aufschwelende Streiks lähmen Wirtschaft und öffentliches Leben in Algerien, sondern auch die quasi ununterbrochenen Demonstrationen der Islamischen Heilsfront (FIS). Nach Augenzeugenberichten gingen am Mittwoch vergangener Woche an die 10.000 Moslemschwestern in der ostalgerischen Stadt Constantine auf die Straße und forderten die Errichtung eines islamischen Staates.

In Algier und anderen Städten kommt es immer wieder zur Besetzung der Hauptverkehrswege durch öffentlich betende Moslembrüder. Ein für den vergangenen Donnerstag geplanter Sternmarsch der FIS-Anhänger aus dem ganzen Land in die Hauptstadt konnte in letzter Minute durch ein Stillhalteabkommen zwischen ihren Führern Madani, Belhadj und der noch amtierenden Regierung Hamrouche ausgesetzt werden. Am Sonntag kam es in der Hauptstadt trotzdem zu einem Aufmarsch Tausender Integralisten, die den sofortigen Rücktritt Präsident Chadlis forderten.

Kontrolliert die FIS ihre Basis? Oder verfolgt sie ein doppeltes Spiel? Mit Wasserwerfern und Tränengas wurden die Demonstranten von der Polizei auseinandergetrieben. Die Wasserwerfer sind eine Neuanschaffung. Bei den Volksunruhen von 1988, die zur Zulassung des Mehrparteiensystems führten, war noch geschossen worden. Damals hatte es 500 Tote gegeben.

Die FIS protestiert vor allem gegen das kürzlich erlassene Gesetz, das für die auf den 27. Juni festgelegten Parlamentswahlen eine Neuaufteilung der Wahlbezirke vorgenommen hat, die für sie äußerst nachteilhaft zu werden verspricht. Die Wahlbezirke sind nicht nach der Einwohnerzahl bestimmt worden, sondern nach regionalen Gesichtspunkten. Danach bekommen dann die großen Städte und Ballungszentren — in denen die FIS 1990 bei den Kommunalwahlen besonders viele Stimmen hatte — proportional weit weniger Abgeordnete als dünn besiedelte Gebiete. Zweifellos ein Trick der noch herrschenden Staatspartei FLN, der aber auch mancher Regionalpartei den Einzug in die Abgeordnetenkammer ermöglichen kann.

Des weiteren gilt der Protest der FIS der weitgehenden Monopolisierung der Massenmedien — Fernsehen und Rundfunk — durch die FLN. Hierunter leiden freilich die anderen Oppositionsgruppierungen — an die 30 Parteien — weitaus mehr als die FIS. Denn sie erreicht die Wählerschaft über die Moscheen und zahllose Lautsprecher, die über viele Ortschaften einen regelrechten Geräuschteppich gelegt haben. Aus diesen Lautsprechern schallen nicht nur unaufhörlich Gebete, sondern auch politische Reden.

Beobachter haben den Eindruck, daß die Integralisten eine offene Konfrontation mit der noch bestehenden alten Macht suchen. Vielleicht sogar mit dem demokratischen System überhaupt — was auf die Verhinderung der Wahlen hinausliefe.

Der Aktivismus der FIS vor den Wahlen erklärt sich nicht nur durch das Wahlgesetz und die Benachteiligung in den Medien. Sie sah ihre Anhängerzahl auch schwinden und Zweifel wachsen, weil ihre Politik in den Kommunen wenig erfolgreich war. Seit den Gemeindewahlen im vergangenen Jahr stellt die FIS in den meisten Kommunen, auch in der Hauptstadt, den Bürgermeister. Die Wohnungs- und Wassernot konnte sie nicht lindern. Lediglich die preisgünstigen „islamischen Märkte“ während des Ramadan mögen überzeugend gewirkt haben. Auch aus dem Golfkriegsdesaster ging die FIS unglaubwürdig hervor. Sie hatte zunächst ihre Geldgeber, die Scheichs von Saudi-Arabien und der Golfregion, unterstützt und war dann zur uneingeschränkten Gefolgschaft Saddam Husseins übergewechselt.

Meinungsumfragen gehen davon aus, daß die FIS den ersten Wahlgang am 27.Juni doch gewinnen wird. Beim drei Wochen später angesetzten zweiten Wahlgang würden die Wähler der kleinen Parteien wahrscheinlich die FLN als kleineres Übel betrachten und ihr zur Mehrheit verhelfen. Dann bliebe trotz Demokratisierung alles beim alten.