Mediengerechte Juden?

Der „typische Fall“ ist nicht auffindbar. Eine Nachbetrachtung über die verzweifelte Suche nach dem fernsehgerechten Juden  ■ Von Sabine Stamer

Ein Montagmorgen in der Berliner Beratungsstelle für jüdische Einwanderer aus der Sowjetunion. Ein gutes Dutzend Wartende und zwei Fernsehteams in dem langen, von Neonlicht erleuchteten Flur. Ich klopfe an die Tür. „Kleinen Moment noch“, heißt es drinnen. Beratung der Berater.

Draußen langweilen sich die Ratsuchenden auf den unbequemen Holzbänken und verstecken ihre Gesichter vor den Kameras. Sie fürchten, nie wieder in die Sowjetunion zurückkehren zu dürfen, wenn man sie im Westfernsehen entdeckt. „Hier läßt sich kaum einer filmen“, hatte man mich schon am Telefon gewarnt, „kommen Sie ruhig, aber wir haben wenig Zeit, bei so vielen Journalisten kommen wir kaum noch zu unserer eigentlichen Arbeit.“

Ich setze mich zwischen die Wartenden, die sich auf russisch flüsternd unterhalten, und frage mich, welchen Sinn es macht, sich in die Schlange der ungern gesehenen Fernsehteams einzureihen. Mein Team kommt morgen. Ich soll für unsere nächste Sendung, ein politisches Magazin, einen Bericht über die Situation sowjetischer Juden in Deutschland machen, einen kritischen natürlich.

Die falsche Jüdin aus dem richtigen Land

Ein kleines Mädchen schläft an Mamas Schulter, während Papa auf und ab geht. Eine junge, sehr sympathische Familie, die sich dem ersten Eindruck nach gut für meinen Bericht eignen könnte. Die Nekrassows*, die Eltern Mitte zwanzig, die Tochter sechs Jahre alt, kommen aus Moskau, erfahre ich mit Hilfe eines Englisch sprechenden Emigranten. Er arbeitete dort als Zahntechniker, sie an der Strickmaschine. Sie wollten unbedingt raus aus der Sowjetunion. Warum? Na, der Antisemitismus! Wie haben sie den erfahren? Anrufe habe es gegeben mit der Aufforderung „Juden raus!“ Bevor ich nach weiteren Erfahrungen dieser Art fragen kann, hält mir Tatjana Nekrassowa ihre Papiere hin, die — zum Teil in kyrillischen Buchstaben, zum Teil in englischer Übersetzung — ihre jüdische Herkunft belegen sollen. Ihre Großmutter sei Jüdin, sie könne das beweisen, ganz sicher, betont sie immer wieder.

Endlich ist die Familie an der Reihe. In seinem kahlen, provisorischen Büro überprüft der Leiter der Beratungsstelle, Matthias Jahr, stirnrunzelnd die Papiere. Ein alter FDJ-Funktionär mit neuem Einflußbereich. Laut Paß sind die Nekrassows nicht Juden, sondern Weißrussen. Wie kommt das? Eine Dolmetscherin, selbst sowjetische Jüdin, übersetzt. Tatjana erklärt, sie habe ihre Herkunft wegen des Antisemitismus in der Sowjetunion verschwiegen. Wie es im übrigen viele gemacht haben. Einwand des Beraters: Wie konnte sie verfolgt werden, wenn niemand wußte, daß sie Jüdin ist? Tatjana beruft sich verzweifelt auf ihre jüdische Großmutter und den Antisemitismus — ein Zauberwort, von dem sie gedacht hatte, daß es ihr hier in Deutschland alle Türen öffnen würde. Matthias Jahr schüttelt mit dem Kopf. Für zwei Nächte nur gibt er den Nekrassows die Berechtigung, in einem für jüdische Einwanderer reservierten Heim unterzuschlüpfen.

„Das ist nicht der richtige Fall für Sie“, stellt er bedauernd fest. Die Papiere seien höchstwahrscheinlich gefälscht, die Geburtsurkunde der Großmutter wurde erst im Jahre 1990 ausgestellt. Jeder könne sich in der Sowjetunion auf diese Weise eine jüdische Abstammung erkaufen. Matthias Jahr schickt die Nekrassows zwecks weiterer Überprüfung zum Zentralrat der Juden in der Ostberliner Oranienburger Straße. Auch dort schüttelt man den Kopf, schreckt aber ebenso vor einem endgültigen Nein zurück und verweist die Familie an den Zentralrat West. Tatjana weint. Es ist inzwischen dunkel geworden. Ratlos und enttäuscht macht sich die kleine Familie auf den Weg zur Straßenbahn.

Einmal angenommen, sie sind tatsächlich nicht vor dem Antisemitismus in der Sowjetunion geflohen, sondern vor bitterer Armut, vor leeren Geschäften, wo es weder Kleidung noch Lebensmittel zu kaufen gibt. Wäre das ein Grund, ihnen Hilfe zu verweigern? „Sie werden zwar nicht als Juden aufgenommen“, tröstet die Dolmetscherin in der Beratungsstelle, „aber sie haben andere Möglichkeiten und Organisationen, die sich um sie kümmern. Wir können nicht die ganze Welt aufnehmen.“

Die richtige Jüdin aus dem falschen Land

Das verstehe ich. Ich selbst kann auch nicht in jedem Bericht das Elend der ganzen Welt behandeln. Die Not der Nekrassows hat in meinem Beitrag keinen Platz, denn der soll sich ohne Umschweife und Abschweifungen mit den Problemen der jüdischen Einwanderer befassen. Eine Familie mit gefälschten Dokumenten könnte da eher ein schlechtes Licht auf die echten Juden werfen. Ade, Tatjana, viel Glück!

Dienstag morgen, das Team ist da. Ein ausführliches Interview mit dem Leiter der Beratungsstelle, die Leute draußen müssen solange warten. Endlich das erste Beratungsgespräch: Maria Oystrach, Medizinstudentin. Sie ist vor drei Stunden auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld angekommen, nicht aus Moskau, sondern aus Tel Aviv. Vor fünf Monaten hatte ihre Familie die Sowjetunion Richtung Israel verlassen, um dort vieles ganz anders vorzufinden, als man ihnen versprochen hatte. „Und nach fünf Monaten“, unterbricht Matthias Jahr, „da kann man sich schon ein vollständiges Bild machen...“ Sie habe keine Arbeit gefunden, nicht einmal als Putzfrau, erklärt Maria Oystrach, auch keine Wohnung, weder sie noch ihr Mann hätten in Israel die Möglichkeit, ihr Studium fortzuführen. Wenn sie das gewußt hätte, wäre sie nie dorthin gefahren. Eltern und Schwester sind bereits in Berlin, ihr Mann will baldmöglichst nachkommen.

„Frau Oystrach, ja?“ Matthias Jahr wirft einen skeptischen Blick in ihre Papiere. „Sie kommen jetzt aus einem Land, das in der Welt als demokratisch bekannt ist...“ Um es kurz zu machen: Da sie nicht direkt aus der Sowjetunion eingereist ist, wird sie als Problemfall an den Zentralrat der Juden verwiesen. Ende des Kreuzverhörs. Der Berater reicht den Paß zurück, die flehentlichen Bitten um eine Ausnahmeregelung überhört er gefaßt. „Wieder so 'ne Scheiße“, ruft er, als Maria Oystrach endlich den Raum verlassen hat, das sei leider auch kein passender Fall für mich. Tatjana — die falsche Jüdin aus dem richtigen Land, Maria — die echte Jüdin aus dem falschen Land. Ich frage mich, ob die falschen Fälle am Ende nicht doch die richtigen sind, doch versichert mir der Leiter der Beratungsstelle — und der muß es wissen —, daß ich hier durch einen unglücklichen Zufall an ganz untypische Einwanderer geraten sei.

Zwei Stunden später beim Zentralrat der Juden in der Joachimsthaler Straße im Westen. Hier herrscht Hochbetrieb, verursacht durch einen Ansturm untypischer Problemfälle: Einwanderer aus der Sowjetunion mit unzureichenden oder gefälschten Papieren und jüdische Familien aus Israel, die heute morgen mit vielen Koffern und großen Illusionen in Berlin gelandet sind.

Hier erfährt Maria Oystrach noch einmal, daß sie keine freie Unterkunft bekommen kann und keine Sozialhilfe. Natürlich könne sie hierbleiben und Mitglied der Gemeinde werden, erklärt Berth Herbst, eine junge, rigorose Sozialarbeiterin. Aber sie habe bereits in Israel eine Starthilfe erhalten, eine zweite könne sie vom deutschen Staat nicht erwarten. Maria Oystrach beteuert, sie habe die israelische Unterstützung voll und ganz zurückgezahlt, doch das interessiert hier in der Hektik niemanden und kann auch nicht bewiesen werden.

Eine junge Jüdin, abgewiesen nicht nur vom deutschen Staat, sondern auch von ihrer eigenen Gemeinde. Hilflos und den Tränen nahe, sitzt sie am Schreibtisch der unnachgiebigen Sozialarbeiterin. Maria tut mir leid. Mein Beitrag gewinnt langsam wieder eine Stoßrichtung. Doch schafft es Berth Herbst (rauh aber herzlich), diese erneut ins Wanken zu bringen. Natürlich fällt es ihr schwer, die Leute abzuweisen, aber „sie kommen her, stehen da mit vier Kindern und sagen, nun macht irgendwas. Es wär doch angebracht, sich vorher zu erkundigen. Wenn ich plötzlich nach Moskau reise, dann erhalte ich auch nicht einfach Unterstützung.“ Außerdem hat sie den Eindruck, daß aus Israel nicht gerade die Ärmsten kommen: „Die fliegen mal eben so nach Israel hin und zurück. Ich selbst könnte mir das nicht leisten.“ Die Hilfsangebote seien begrenzt und für die wirklich Bedürftigen gedacht.

Ich schiele zu Maria Oystrach, die immer noch mit den Tränen kämpft. Sie ist schick gekleidet, eine modische Brille, Lederjacke, Jeans in halbhohen Stiefeln. Sie weiß nicht, was sie jetzt tun wird. Wahrscheinlich wird sie die erste Nacht bei ihren Eltern und ihrer Schwester verbringen, die sich im Wohnheim Hessenwinkel ein kleines Zimmer teilen.

Hessenwinkel liegt im äußersten Südosten Berlins nahe am Müggelsee. In den Gebäuden der früheren Nationalen Volksarmee sind 450 jüdische Einwanderer untergebracht. Stacheldraht und Wachtürme, wenngleich außer Funktion, wecken beschämende Erinnerungen. Es ist Mittwoch. — Hier hoffe ich eine jüdische Vorzeigefamilie zu finden, die zur Verfolgung der Juden in der Sowjetunion mehr zu sagen weiß als das Stichwort „Antisemitismus“, die mir erklären kann, warum sie ausgerechnet im Land der Judenvernichtung Sicherheit sucht.

Die zufriedene Vorzeigefamilie

Ich lerne Sascha und Polina Narodezkaja aus Leningrad kennen. Sie haben bösartige Briefe und Anrufe bekommen; in den letzten zwei Jahren sei es immer schlimmer geworden. „Sascha konnte keine qualifizierte Arbeit finden“, erzählt Polina, „weil er Jude ist. Das hat man ihm auf den Kopf zugesagt.“ Sie selbst hat vor einem Jahr ihre Stelle als Deutschlehrerin aus demselben Grunde verloren und war seitdem auf Privatstunden angewiesen. Tochter Swetlana, inzwischen 24 Jahre alt und Ärztin, erzählt von Bedrohungen aus ihrer Schulzeit. In den sowjetischen Klassenbüchern wird die Nationalität festgehalten; ihre 40 Mitschüler waren russisch, sie die einzige Jüdin. Sie wurde beschimpft, bedroht („Auf dem Nachhauseweg überfallen wir dich!“) und einmal sogar geschlagen. Die Klassenlehrerin hat nichts dagegen unternommen.

Als sie es in Leningrad immer weniger aushielten, war für sie sonnenklar: Wir gehen nach Deutschland. Schon lange haben sie sich für die Kultur dieses Landes interessiert; die beiden Frauen sprechen sehr gut Deutsch. An Israel haben sie auch gedacht, aber Angst gehabt vor einer ganz fremden Kultur, vor dem ungewohnten Klima und der dortigen gespannten Lage.

„In der SU war es schlimmer“

Und keine Angst vor Deutschland? „Ich weiß, daß mein Großvater durch die Leningrader Blockade gestorben ist“, antwortet Swetlana, „aber ich fühle hier weniger Faschismus als in der Sowjetunion. Freilich kann ich antijüdische Parolen auf den Wänden lesen, aber in Leningrad gab es davon noch mehr.“ Polina ergänzt: „Ja, an den Wänden stehen manchmal so häßliche Dinge, aber im Alltag merken wir überhaupt nichts davon. Wir treffen nur auf Unterstützung und Zuneigung.“ Nach allem, was sie von Einwanderern aus Tel Aviv hören, scheint es ihnen, Deutschland tue sogar mehr für die Juden als Israel.

So zufrieden wie die Narodezkajas sind die meisten in Hessenwinkel. Jede Familie hat einen Kühlschrank, jede Etage eine Waschmaschine. Jeweils drei Menschen teilen sich ein 16-Quadratmeter-Zimmer, das ist eng, aber keiner hat mit der Zuweisung eines Bungalows gerechnet. Immerhin wurde innerhalb weniger Wochen in Berlin und den neuen Bundesländern Platz geschaffen für 4.000 Juden aus der UdSSR.

Während ich gerade darüber nachdenke, wie man einen kritischen Bericht über die guten Deutschen macht, rettet mich Polina aus meinen trübsinnigen Grübeleien: Sie hat ein Problem! Es betrifft Swetlana. Die hat sich in einen Kanadier verliebt und möchte nun gerne nach Kanada. Doch die Behörden auf beiden Seiten stellen sich quer. Die kanadischen wollen sie nicht einreisen lassen, weil sie keinen Paß hat, und die Ausländerbehörde in Berlin will ihr diesen Paß nicht ausstellen. Ihre sowjetischen Pässe mußte die Familie in der Sowjetunion abgeben. Mehrmals wurde Swetlana mit ihrer Bitte bei der Ausländerbehörde abgewiesen.

Donnerstag morgen: Wir starten gemeinsam einen neuen Versuch. Der Sachbearbeiter weiß Bescheid, das Fernsehen kommt. Sein schnauzender Ton weckt wenig Hoffnung auf Erfolg. Sichtlich genervt lutscht er während des Verhörs von Swetlana an seiner Zigarette: „Und Ihre Angaben dahingehend, daß Sie Ärztin sind, sind richtig, ja?“ Nach endloser Fragerei, die sich im Kreise dreht, schließlich ganz unerwartet sein erlösender Stoßseufzer: „Hmhm, nun gut...“ Er drückt ihr ein Antragsformular für den Reisepaß in die Hand und schickt sie zur Kasse, wo sie 30 Mark bezahlt, die man von ihr als Sozialhilfeempfängerin nicht verlangen darf, aber das erfahren wir erst später. Nach einer formalen Bearbeitungszeit von drei Wochen wird sie den Fremdenpaß abholen können.

Riesenfreude für Swetlana am dritten Drehtag unserer ungewollten Serie über den guten Deutschen. „Wissen Sie was“, tröstet mich der Sachbearbeiter, „Sie haben hier sowieso keinen typischen Fall.“ Aha. „Der übliche Fall ist der, daß diese, ich sag mal in Anführungsstrichen sowjetischen Juden hier ankommen, ausstaffiert mit sowjetischen Reisepässen... und mein Eindruck ist, daß viele die Sozialhilfe gar nicht nötig haben, insbesondere die Damen, die hier vorstellig werden in den feinsten Pelzen.“ Und wenn man sie frage „Was ist ein Jude?“, dann wüßten sie nicht einmal eine Antwort.

Ein frustrierter Bürokrat

Ein frustrierter Bürokrat vor der Kamera. Ein Ausländerfeind, ein Judenhasser? Die Jüdin selbst, Swetlana Narodezkaja, berichtet von einer Emigrantin in Hessenwinkel, die, üblicherweise gut gekleidet, auf dem Sozialamt in demonstrativ zerrissener Jacke um Sozialhilfe bittet. Die Pressesprecherin des Berliner Sozialsenats sieht sich vor einem Dilemma: „Wir können keinen Hotelbetrieb aufmachen, wir wollen aber auch niemanden auf der Parkbank erfrieren sehen. Daß jemand behängt mit Schmuck nach Wärmehilfe fragt, das hatten die Sozialämter noch nicht erlebt.“ Doch über solche Ereignisse spricht man nicht. Sie könnten alle Juden, alle Ausländer in Mißkredit bringen. Davor scheuen Journalisten zurück. Diese Erfahrung hat der Sachbearbeiter gemacht und scheint bereits zu wissen, wie mein Bericht aussehen wird. Fast hätte er recht gehabt.

Eine Stunde später höre ich aus meiner Redaktion: „Komm zurück, wir haben das Thema sterben lassen und konzentrieren alle Kräfte auf die Golfkrise.“

* Name von der Redaktion geändert

Sabine Stamer war bis vor kurzem Redakteurin des ARD-Magazins „Monitor“