Mitgeschnittene Tischgespräche

■ »Rausch. Verbrechen und Verbrechen« in der Freien Volksbühne

Es ist so recht ein Zeitstück für den Kulturmenschen mit nervösem Magen, aber einem gesunden Appetit auf das Ungesunde; der aus Langeweile die Seiten wechselt, und noch, als er längst im Abseits steht und vom Spielfeld verwiesen wird, Genuß in der Regelverletzung samt Bestrafung findet, die die eigene jämmerliche Existenz zum Schicksal aufwertet. So wird das Leben durch gut dosierte Stürze gewichtiger; und noch im Umfallen läßt sich der Aufprall am Hinterkopf studieren. August Strindbergs in der Freien Volksbühne aufgeführte Komödie Rausch mit dem selbst als »langweilig und zweideutig« charakterisierten Untertitel Verbrechen und Verbrechen stellt solcherlei Wesen auf die Bühne, die sich an ihrer Amoral berauschen wollen, es aber nur zu einem Seitensprung und einem gestandenen Verbalanarchismus bringen.

Der Theaterregisseur Maurice verläßt seine Freundin Jeanne und das gemeinsame Kind, die Bildhauerin Henriette ihren Maler-Freund Adolphe; die Liebe vollzieht sich mit dem Verrat und dem Reden darüber, und so entsteht der Rausch, die finstersten Gedanken und Wünsche auch auszusprechen. Als das als Liebeshindernis so dahinverfluchte Kind tatsächlich stirbt, wird für Henriette und Maurice äußere und innere Realität eins; das Verbrechen besetzt die Gehirnwindungen, das Koordinatennetz, auf dem alle Spiele möglich waren, scheint selbst getürkt. Dem Seelenokkultismus Strindbergs wird in der Inszenierung Werner Heinrichmöllers mit sentimentalen Chanson-Zwischenspielen, großbürgerlichem Interieur, düsterem Wettern der Himmelsgewalten Rechnung getragen. In Kostümen im Stil der zwanziger Jahre berauschen sich Henriette (Sophie Rois) und Maurice (Andreas Patton) an Sekt und Soda, Kerzenlicht und Überschwang, sprechen höchst artikuliert, bisweilen maniriert, auch selbstironisch. wie man halt so spricht in lockerer Medien- und Macherrunde. Es ist eine Lust, ihnen zuzuhören und das Drama in der Komödienjacke seinen Lauf gehen zu lassen.

Die Intimität der Tischgespräche entsteht vor allem durch den verkleinerten Spiel- und Zuschauerraum, zu dem man durch den hinteren Bühneneingang, an der Technik vorbei gelangte. Um so größer ist der Schrecken, wenn sich herausstellt, daß die Gespräche belauscht wurden, daß das Reden über Verbrechen zum Verbrechen wird. »Verbirgt nicht jeder irgendein Verbrechen?« beruhigen sich Henriette und Maurice gegenseitig, um sich gleich anschließend gegenseitig des Mordes zu beschuldigen. Ihre Wahnwelt nimmt zu oder aber das Gefühl, bei unveränderter Umgebung in ein Wahnsystem abgeglitten zu sein.

In einer solchen Szene hat man sich den Adelheid-Streidel-Effekt zunutze gemacht. Henriette sitzt, nachdem ihr Bild als vermeintliche Mörderin in allen Zeitungen war, allein in einem Restaurant. Ein blonder, netter Rosenverkäufer (tatsächlich ist Torsten Buchsteiner Detektiv, Kommissar und Rosenverkäufer in Personalunion) kommt herein, setzt sich auf einen Stuhl, lächelt ins Publikum, summt ein bißchen herum. Plötzlich steht er auf, geht auf Henriette zu, zerschleudert alle Rosen auf ihrem Tisch und beschimpft sie als Hure, die sofort mitzukommen hat, um ihren Gesundheitspaß in Empfang zu nehmen. Der dazukommende Kellner schafft nicht etwa den Rosenverkäufer weg, sondern stimmt ihm zu. Und da erinnert man sich an den Kommissar, der seine Verdachtsmomente auf die Aussagen von Kellnern stützte, die Tischgespräche im Gedächtnis mitschnitten. Hat der Wahn System oder ist das System wahnsinnig?

Zwischen Strindbergs Vorstellungen von Gedankentaten, unterbewußten Verbrechen und Streidels Überzeugung von Untaten in unterirdischen Fabriken liegt so gesehen nur das real ausgeführte Verbrechen. Doch übersteigt ihre Tat die Wirklichkeit des Theaters.

Maurice, der Gewohnheitsatheist, wird am Ende in die Arme der Kirche getrieben. Zwar stellt sich seine Unschuld heraus, zwar spielt er wieder Theater, doch teilt er seine Zeit zwischen Kultur und Gott in Zukunft säuberlich auf. Mit dem optimistischen Ausblick werden alle sorgfältig aufgegrabenen Abgründe wieder zugekleistert: Heute zur Kirche, morgen ins Theater — so wird das Unbehagen, einmal losgelassen, in die Kulturgesellschaft integriert. Der Schluß, werktreu inszeniert, hebt ebendies Unbehagen, das doch auch der Zuschauerin das Stück versüßt hat, am Ende wieder auf. Auch wenn die Geschichte auf einem Friedhof begann, und trotz dramatischer Beschwörungen wie »Dies ist kein Menschenwerk...« und anderen düsteren Andeutungen — der Schluß sagt: Alles geht in Ordnung und hat seinen Plan. Auf- und gegenaufgeklärt kann uns im Theater nichts mehr passieren. Das ist eben unsere ganz persönliche Zuschauertragik. Dorothee Hackenberg

Rausch in der Freien Volksbühne. Regie: Werner Heinrichmöller, Bühne: Katrin-Susann Brose, Kostüme: Heidi Hackl. Mit Andreas Patton, Iris von Kluge, Quapra Razzag, Stefan Wieland u.a.