Finstere Bilanz der Gewalt und Unterdrückung

■ Die Gefangenenhilfsorganisation amnesty international legt heute ihren Jahresbericht 1991 vor/ Folter in jedem zweiten Land der Erde/ Menschenrechtsverletzungen nicht nur auf fernen Kontinenten, sondern auch in Europa und der Bundesrepublik

Bonn/Berlin (afp/taz) — Politische Gefangene in jedem zweiten Land der Welt, Folter in mehr als hundert Staaten, staatlich sanktionierte Morde in 29 Ländern: Die Hoffnungen auf eine an Menschenrechten orientierte Politik, die nach dem Ende des Kalten Krieges, dem Fall der Mauer und der Demokratisierung in Osteuropa und anderen Regionen der Welt aufgekeimt waren, sind im vergangenen Jahr durch die fortdauernde und in vielen Ländern sogar verschärfte Anwendung politischer Gewalt nachhaltig enttäuscht worden. Dieses Resümee zieht die Menschenrechtsorganisation amnesty international (ai) in ihrem Jahresbericht 1991, der heute in Bonn vorgelegt wird.

In dem 500seitigen Bericht, der die Menschenrechtsverletzungen im vergangenen Jahr in der ganzen Welt aufführt, sind insgesamt 141 Staaten der Menschenrechtsverletzung angeklagt. In 29 Staaten verschwanden politisch unliebsame Personen spurlos. In 80 Staaten saßen 1990 gewaltlose politische Gefangene in Haftanstalten ein, in 55 Staaten waren Personen ohne Gerichtsverfahren inhaftiert, in 44 Ländern wurden Menschen in unfairen Prozessen zu Haftstrafen verurteilt. In der Haft oder beim Verhör wurden in über 100 Ländern Menschen gefoltert oder mißhandelt. In mehr als 40 Staaten starben Gefangene unter Folter oder infolge unmenschlicher Haftbedingungen. In 29 Ländern der Welt wurde 1990 die Todesstrafe vollstreckt, in 60 Staaten warteten 2.300 Verurteilte in der Todeszelle auf ihre Hinrichtung. Verbesserungen der Menschenrechtslage stellte ai vor allem in Osteuropa, aber auch in einigen afrikanischen Ländern fest, wo Mehrparteiensysteme eingeführt wurden. Eine Zunahme der politischen Gewalt wurde unter anderem in China und im Nahen Osten konstatiert. — Todesschwadrone verbreiten in zahlreichen lateinamerikanischen Staaten weiterhin Schrecken und Tod. Vor allem in den Unruhegebieten von El Salvador, Kolumbien, Guatemala und Peru wurden 1990 Hunderte Menschen von Militärs und paramilitärischen Gruppen ermordet, gefoltert oder verschleppt. Besorgt zeigte sich ai über die wachsende Zahl der Kinder, die vor allem in den Großstädten Brasiliens Opfer von Todesschwadronen wurden. In Brasilien ist laut ai-Bericht Folter ein systematisch eingesetztes Mittel der Verbrechensbekämpfung. Zahlreiche Folteropfer seien auch in Argentinien, Mexiko, Ecuador, Honduras und Venezuela registriert worden. Ai kritisierte in dem Bericht, daß die staatlichen Behörden den Landkonflikten in Brasilien, Ecuador und Paraguay gleichgültig gegenüberstehen, wo Bauern weiter ermordet und bedroht werden.

Aber auch in Europa wurden 1990 Menschenrechte von Regierungen und deren Administrationen verletzt. In Nordirland, Polen, Spanien und der Türkei wurden 1990 Menschen von den Sicherheitskräften getötet oder ihre Ermordung von der Polizei zugelassen. Mißhandlungen in Polizeigewahrsam wurden ai aus Österreich, Spanien, Frankreich, Griechenland, Italien und Portugal berichtet. In fast einem Dutzend europäischer Länder wurden Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen mit überlangen Ersatzdiensten oder Gefängnis bestraft.

Wie in den letzten Jahren taucht auch 1990 die Bundesrepublik im amnesty-Bericht auf. Neben etlichen Verbesserungen der Situation vor allem in den neuen Bundesländern nach der Auflösung der DDR, heißt es in dem Bericht auch: „In der BRD wurden auf Grundlage von Anti-Terrorismus-Gesetzen inhaftierte Personen weiterhin faktisch unter Isolationsbedingungen in Gewahrsam gehalten.“ Die lang andauernde Isolation kann nach Darstellung von ai bei den Gefangenen „schwere physische und psychische Schäden hervorrufen und eine Form grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung darstellen.“