499 Jahre Amerika

Am 12. Oktober 1492 landete der Genueser Seefahrer Christoph Kolumbus auf einer Karibikinsel. Die gewaltsame Öffnung des seither „Amerika“ genannten Kontinentes forderte 90 Millionen Menschenleben und schuf eine neue Welt. Seitdem muß Kolumbus und sein Erbe als Projektionsfläche für Heldenmythen und Schuldzuschreibungen herhalten, in den USA wie in Lateinamerika.  ■ VONR.PAASCHUNDA.PRANGE

In fourteen-hundred and ninety- two Columbus sailed the ocean blue.“ Mit diesem ersten Reim aus Winifred Sackville Stoner's berühmtem Gedicht lernt jedes US-amerikanische Schulkind von der Entdeckung der „Neuen Welt“, deren Erschließung auch für die heutige Generation wieder ein verwirrendes Abenteuer darstellt.

Denn ausgerechnet zum 499. Jahrestag der Entdeckung Amerikas bieten die Vereinigten Staaten nicht nur ihren jüngsten Bürgern ein widersprüchliches Bild. Da ist die nach außen hin siegreiche Supermacht, deren jüngste ideologischen und kriegerischen Erfolge im Kalten und im Golfkrieg die weitere Gültigkeit jenes optimistisch-rücksichtslosen Fortschrittsglaubens suggerieren, der mit Kolumbus an diesen Gestaden landete. Da ist aber auch eine im Innern unsicher gewordene Nation, deren zunehmende ethnische Fragmentierung langsam die letzten sichergeglaubten Gemeinsamkeiten bedroht.

Die aus diesem Widerspruch entstehenden Konflikte um Gruppenidentität und nationales Selbstverständnis entzünden sich als erstes an den noch gemeinsam gepflegten Mythen und Helden — zum Beispiel an der Geschichte und dem Erbe des Christoph Kolumbus. Für die einen ist und bleibt Kolumbus der nationale Held, dessen wagemutige Reise bereits das utopische Projekt der amerikanischen Demokratie in sich trug. Für die anderen war Cristóbal Colón nur der erste der europäischen Kolonisatoren, die in der Folgezeit die eingeborene Bevölkerung unterwarfen und dezimierten und die Umwelt zerstörten.

Daß die Figur des Genueser Seefahrers als Projektionsfläche für alle möglichen Aspirationen und Schuldzuschreibungen herhalten muß, ist nichts Neues. Für die Spanier des 17. Jahrhunderts wurde er zur Verkörperung von Abenteuerlust und Eroberungsdrang, der Mann, der im Auftrag von Krone und Christentum das Ruder der Geschichte in die Hand nahm. Für die Italiener symbolisierte er zuerst das Genie des späten Renaissance-Menschen, ehe er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Nationalheld adoptiert wurde — im Dienste des Selbstwertgefühls des neuen italienischen Staates und auch der ersten Italo-Amerikaner. Sogar die Engländer hatten sich der Figur des Kolumbus bereits im 17. Jahrhundert durch Sir Francis Bacon bemächtigt und hielten sich den besessenen Christopher in Literatur wie Wissenschaft als praktischen Prototyp des erfolgreichen Eroberers.

In Nordamerika begann die Kolumbus-Verehrung erst im 18. Jahrhundert. 1692 hatte ihn noch niemand gefeiert, doch hundert Jahre später war der Mann, der den nordamerikanischen Kontinent nie betrat, nach George Washington schon der zweite große Held der neuen Republik. Warum Kolumbus für die ehemaligen Untertanen von Georg III. ein „ideales Totem“ darstellte, wie John Noble Wilford in The Mysterious History of Columbus schreibt, liegt auf der Hand. „Er hatte einen Fluchtweg aus der Tyrannei der Alten Welt aufgezeigt. Er hatte die unbekannten Meere herausgefordert, wo die Amerikaner gerade dabei waren, Gefahren und Verlockungen ihrer offenen frontier abzuwägen. Er war von Königen bekämpft und (seiner Meinung nach) von königlicher Perfidie betrogen worden. Aber als Konsequenz seiner Vision und Kühnheit gab es nun dieses Land ohne Könige, einen Kontinent für neue Anfänge.“

Ihren Höhepunkt erreichte die Kolumbus-Manie in den USA 1893, zur verspäteten Weltausstellung in Chicago. Die riesige Technologie- Messe zur 400-Jahrfeier am Lake Michigan zog damals in einem Land von 63 Millionen Einwohnern 24 Millionen Besucher an. Dies zeigt, so Kirkpatrick Sale in seinem Kolumbus-kritischen Buch Die Eroberung des Paradieses, „daß die Nation aus Kolumbus längst mehr als nur ein patriotisches Symbol gemacht hatte — in der Tat etwas, das den offiziellen Nationalgott repräsentierte: den Fortschritt und solche Begleitengel wie Wissenschaft, Reichtum, Macht und Zivilisation“.

Heute, ein Jahrhundert später, scheint dieses göttergleiche Idol in den USA seine Schuldigkeit getan zu haben. Aus der begeisterten „celebration“ von Chicago ist im Kolumbusjahr 1992 eine neutrale „commemoration“ (Erinnerung) geworden. Die arrogante Vokabel „discovery“ (Entdeckung) mußte in vielen Festschriften dem wechselseitigen Begriff „encounter“ (Begegnung) weichen. Immerhin warteten die Einwohner der nur vermeintlich „neuen“ Welt 1492 nicht begierig auf ihre Entdeckung und Zivilisierung durch die Abgesandten der spanischen Krone — wie dies die Populär-Historie nahelegt —, sondern brachten in das für sie so tragische Aufeinandertreffen der Kulturen eine 15.000jährige Geschichte mit ein.

„Für die Nachfahren der Überlebenden dieser Invasion, von Genozid, Sklaverei und Ökozid und der Ausbeutung der Bodenschätze“, so formulierte im letzten Jahr die amerikanische Kirchenkonferenz zum Kolumbus-Jahr, „stellt eine Feier nicht mehr die angemessene Begehung des Jubiläums dar“. Schließlich lasse Kolumbus, in den Worten von Russell Means vom „American Indian Movement“, „Hitler im Vergleich wie einen jugendlichen Delinquenten erscheinen“. Wieder also muß Kolumbus als Symbol herhalten, diesmal für Ausbeutung, Imperialismus und die allzu lange unterdrückte Geschichte der Opfer seiner Landnahme.

Diese revisionistische Korrektur des populären Kolumbus-Mythos von den cleveren Europäern und den allerhöchst noblen Wilden war längst überfällig. Die „exkulpierende Geschichtsschreibung“ der Vergangenheit, so warnt der angesehene Historiker Arthur Schlesinger, Jr. in seiner Kritik eines „übertriebenen Multikulturalismus“, dürfe allerdings jetzt nicht durch eine „kompensatorische Geschichtsschreibung“ ersetzt werden, die statt der Rechtschaffenheit der Herrschenden nun die positiven Eigenschaften der Beherrschten übertreibe.

Doch zunächst einmal wird die Geschichte des „Zeitalters der Entdeckungen“ aus der Sicht ihrer Opfer erzählt und beschrieben werden müssen. Darin könnte der große Wert des heute beginnenden Kolumbus-Jahres liegen. Erst wenn diese Konflikte über die Wiederaneignung der eigenen Geschichte durch alle Bevölkerungsgruppen durchgestanden sind, werden die Vereinigten Staaten nach einer neuen nationalen Identität suchen können, nach einem „melting pot“, in den dann auch alle hinschmelzen wollen.

Bei dieser Neubestimmung des alten Ideals e pluribus unum dürfte die Figur des Christoph Kolumbus ein halbes Jahrtausend nach der gewaltsamen Öffnung des Kontinentes allerdings kaum noch behilflich sein. Vielleicht ahnen die Kids das ja schon heute. Bei einer Umfrage zur Entdeckung Amerikas konnten ein Drittel der befragten 17jährigen nicht einmal das Jahrhundert nennen, in dem Kolumbus mit der Santa Maria, der Pinta und Nina irgendwo in der Mitte der Amerikas anlegte. Rolf Paasch, Washington