DEBATTE
: Das erste Jahr

■ Deutschland ist als Bundesrepublik in Europa angekommen

Bedenkliches Wägen über den Mangel an innerer Einheit der Deutschen durchwehte die Feuilletons der Presse am 1. Tag der Wiedervereinigung. Nach dem Tenor der meisten Artikel von taz bis zur 'FAZ‘ gibt es kein größeres kulturell-politisches Problem der Deutschen als das ihrer „inneren Zerrissenheit“ (Friedrich Dieckmann). Von der „Mauer in den Köpfen“, vom „saturierten Altbundesbürger“ ist die Rede, der gerade noch die Kraft hat, „sich zu einer Schutzgemeinschaft westdeutscher Lebensart zu vereinen“ (Klaus Hartung in der taz). Und auch davon, daß die Wiedervereinigung eine „glückliche Wendung der Geschichte“ sei, „auch wenn ihre subjektive Würdigung hinter dem objektiven Gewinn noch“ zurückbleibe. So Jens Jessen in der 'FAZ‘, gewissermaßen in Adaptation von Hegels „stalinistischem“ Satz, die Freiheit sei Einsicht in die Notwendigkeit.

Was macht ihn denn aus, diesen „objektiven Gewinn“ an Glück für alle? Zunächst einmal sind die Bürger der ehemaligen DDR ein totalitäres System losgeworden. Sie haben die Chance erhalten, einer funktionierenden repräsentativen Demokratie beizutreten. Die muß jetzt noch die Poren der alten DDR-Gesellschaft durchdringen, neue Formen der Gesellschaftlichkeit — und Staatlichkeit — herstellen. Das dauert und wird nicht ohne eine offene gesellschaftliche Auseinandersetzung über individuelle Freiheit, Demokratie und die schuldhafte Verstrickung der Mehrheiten in der Ex- DDR mit der SED-Herrschaft abgehen.

Es „west“ im Feuilleton

Auch die Bundesrepublik hat mindestens bis 1968 gebraucht, bis diese Auseinandersetzung sie hoffentlich unumkehrbar liberalisierte. Es geht also nicht darum, die Brüche im Fühlen und Denken zwischen den neuen und alten Bundesbürgern durch Appelle ans Deutsche oder durch Revolutionsromantik zu übertuschen. Demokratie als Zumutung an den Einzelnen gilt es auch im Osten zu verwirklichen. „Rabatte in Grundgesetz“, so Joschka Fischer im Bundesrat, „kann es nicht geben.“

Eine Mehrheit der Bundesbürger (Ost und West) will heute ganz offenkundig im politischen Gemeinwesen Bundesrepublik Deutschland zusammenleben. Daraus ergibt sich der Respekt und die Beachtung der Regeln, in denen dieses Zusammenleben erfolgt: eben das Grundgesetz der Bundesrepublik — mit allen Macken, die das hat. Die muß man ändern, und der Weg dazu ist auch klar: über die verfassungsändernden Zweidrittelmehrheiten in beiden Kammern. Das wär's dann aber auch.

Den Kommentatoren jedoch reicht das nicht. Von Hartung und Jessen bis hin zu Bohrer „west“ es, dem Verfassungsstaat fehle die wertebestimmende Substanz, eine Substanz, die mehr ist als die demokratischen Institutionen, soll der Demokratie einen Sinn eingeben. Max Webers Definition der Politik in einer Demokratie, jenes „starke langsame Bohren dicker Bretter“, steht gegen die wesenhaften Erwartungen von allen Seiten. Die Bürger, vor allem die im Westen, sollen sich wieder als ein Volk fühlen. Aber was ist das? Ein Volk? Und worauf liegt der Akzent? Auf dem ein oder dem Volk?

Irrationalismus

Der Zusammenbruch des DDR- Regimes durch die Abstimmung ihrer Bürger mit den Füßen soll die endlich nachgeholte, endlich geglückte bürgerliche Revolution in Deutschland gewesen sein? Die Leipziger Montagsdemonstrationen als Anschluß an die englische oder französische Revolution? Um diese „Revolution“ in der DDR zu retten, bleibt nichts anderes, als die BRD klein zu machen. Deren Verfassung soll durch eine neue ersetzt werden. Die „Tabula rasa, die wir erleben, ist erst einmal freier Raum fürs Denken. [...] der rabiate Schock unverstellter Erfahrungen von Gesellschaft ist das Treibmittel, aus dem die Zukunft gebacken wird“ (Klaus Hartung).

Das Ende der DDR war aber nur der frei gewählte Anschluß, würdevoll bürgerlich-freiheitlich in einigen Momenten, aber keine Revolution. Klingt vor diesem Hintergrund die Sprache Klaus Hartungs nicht irritierend, wie jene Sprache des „Radikalismus als Selbstzweck“, die „immer die radikale Zerstörung alles Bestehenden fordert“ und die sich so schwer gegen das „beunruhigende Bündnis von Mob und Elite“ (Hannah Arendt) abgrenzen kann, ja sogar die Gefahr, selbst dort mit hineingezogen zu werden? In Klaus Hartungs Argumentieren verstört die irrationalistische Bewunderung von Kraft und Intensität. „Erfahrungen“ geraten in Gegensatz zu „Nachdenken“ und „Vernunft“. Das Subjekt dieser Erfahrungen aber ist ganz leer. Es ist eine Erfahrung der Geschichte, daß das Spielen mit dem verabsolutierten Neuanfang noch immer Zeichen eines Aufbruchs in den Totalitarismus war.

Gewiß, Freiheit und Demokratie gibt es nicht ohne Risiko, ohne Offenheit, aber sie unterscheiden sich grundlegend von „Treibmitteln, aus denen die Zukunft gebacken wird“, sind sie sich doch selber Ziel und Zweck. Demokratie kann von ihrem Wesen her nie aufs Ganze zielen. Mehrheitsentscheidungen, Konsens und Rechtsstaatlichkeit können nur partikulär sein. Die Geschichte der DDR ist vorbei, sie ist schon kein politischer Bezugspunkt mehr. In zehn Jahren sind die neuen Bundesländer einfach Bundesländer und sonst nichts. Zu kritisieren ist Hartungs Argumentationsfigur, weil sie heute an Mythen mitstrickt, die viele Alt- Linke und Ex-DDRler zu einer neuerlichen Suche nach dem Heroischen verführen könnten.

Auf der anderen Seite des Spektrums stehen diejenigen, die die Nationwerdung der Deutschen auf ihr Panier geschrieben haben (F. Dieckmann, K.H. Bohrer etc.). Damit ist offensichtlich mehr gemeint als die verfassungsstaatliche Dimension. Und gerade an diesem Punkt entsteht das Problem. Das „objektive Glück“, also ein Glück, das nicht, wie es die philosophische Tradition nahelegt, untrennbar mit dem für sich seienden Subjekt verbunden ist, sondern dieses offensichtlich dialektisch oder sonstwie aufhebt, kann ja wohl nur auf etwas Größeres zielen, die Nation, das Volk. Die Bundesrepublik ist ein Verfassungsstaat. Wer mehr will, der muß sagen, was. Ansonsten muß er sich vorhalten lassen, letztlich doch auf die Erlösung des Völkischen zu zielen. Was soll den Bürger aus Cottbus denn mit dem aus Aachen einen, außer der gemeinsame Paß? Für das politische Gemeinwesen zählen die Individuen, nicht ihre privaten oder familiären (Volks) Bande. Weder Sprache und Kultur noch „Rasse“ können einen demokratischen Verfassungsstaat begründen. Das kann nur der Wille der Bürger zur Demokratie.

Vertragsstaat, sonst nichts

Seit Preußen durch die kleindeutsche Lösung von 1871 die „deutsche“ Frage dezisionistisch und mit Gewalt entschied, plagt dieses Deutschland ein Rechtfertigungszwang. Zur Demokratie konnte und mochte sich Preußen/Deutschland nicht bekennen. Die Weimarer Republik war dazu zu schwach. Ein zentraler Punkt dieser Schwäche lag auch im totalen Versagen der deutschen Intelligentsia vor dem völkisch-nationalen Denken, der sich abzeichnete in den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts und der mündete im Kotau praktisch der kompletten Professorenschaft vor dem nationalsozialistischen Gesetz zur Wiederherstellung des deutschen Berufsbeamtentums aus dem Jahr 1934.

Damals sollte der völkische Gedanke den Makel der klein-deutschen Lösung vertuschen und ihr gewissermaßen die höheren nationalen Weihen verleihen. Auch die neue, wiedervereinte Bundesrepublik trägt in den Augen mancher das Defizit des Kleinen und Beschränkten. K.H. Bohrer spricht das ganz offen aus, und schlägt vor, mehr Nationalismus zu wagen, um der Spießigkeit zu entrinnen. Aber wir haben keinerlei Grund zu solchen Eskapaden. Die Geschichte der Bundesrepublik ist die Geschichte einer allmählichen, fortschreitenden Auffüllung einer vertragsstaatlichen Ordnung durch die Bundesbürger selbst. Dieses demokratische Gemeinwesen ist die beste Garantie gegen Nationalismus und völkische Tümelei. Es spricht vieles dafür, daß mit dem Fall der Diktatur in der DDR und dem Beitritt der fünf neuen Länder zur Bundesrepublik die Zeit deutscher Abweichung vom Zivilisierungsprozeß der westlichen Demokratien zu Ende gegangen ist. Gemessen daran erscheint das Bemühen einiger Kommentatoren, über den historischen Brüchen in der Geschichte der Bundesrepublik die romantischen Politikmuster neu zu beleben, als hilfloses Nachhutgefecht.

Ulrich Hausmann / Udo Knapp