CAFÉ-SATZ VONCHRISTOPHBUSCH

Das Cafésatz-Rezept: In einem Café jemand Fremdes ansprechen und sie oder ihn ganz persönliche Dinge fragen. Die Einstiegsfrage: Warum sitzen Sie hier?

Er, mittelalt, Brechtfrisur, strahlt mich an, als wär' ich der Kellner und brächte Gutes. Warum sitzt er hier? Weil er endlich mal ein korrektes Eis essen will. Wieso „endlich mal“? Weil es vorher keins gab. Es ist ihm unangenehm, daß er sich verraten hat: Er kommt aus dem Beitrittsgebiet. Aber jetzt ist es auch egal: Er vertraut mir seine ganze Eisgeschichte an.

Sein erstes Eis in den Fünfzigern ist eine Kugel Vanille aus dem VEB Molkerei und Dauermilchwerke Schwerin. In den Sechzigern wird er groß mit „richtigem“ Frucht- und Vanilleeis. Auch die frühen Eis-am-Stiel waren lecker, mittendrin so ein flaches Holz, wie die Stäbchen, mit denen einem der Arzt die Zunge runterdrückt: Sag Aah. Ende der Siebziger unterscheiden sich die Eissorten in der DDR nur nach der Farbe. Ein Trost: Ab 87 sind die Waffeln soweit genießbar, daß man sie mitessen kann.

Budapest und Prag, „für uns der Westen des Ostens“, haben dann plötzlich Softeis, mit Schokolade darüber, die hart wird. „Das war die Krönung.“ Nach reiflicher Prüfung zieht die DDR nach. Aber „wie das bei uns so war“, gibt's Kugeleis und Softeis nicht nebeneinander. „Die Zentrale“ setzt voll auf Weich. Zumindest auf der Straße. Die buntdekorierten Becher in den Cafés lassen sich ohne Bällchen nicht verwirklichen. Das große Plus dieser Darreichungsform: „Da wußte man wenigstens bei der Sauce, wo man dran war.“ Bei den Papierschirmchen nicht. „Die gingen nie richtig auf oder schnappten über.“ Erste Sahne der DDR-Eiskultur: der niedrige Preis. Und die Spezialitäten aus vorindustriellen Zeiten. Zum Beispiel das „Streicheis“ auf der Dresdener Vogelwiese. So genannt, weil es mit dem Löffel aus der laufenden Maschine in die Waffel gestrichen wird.

Seine Freundin hat Verständnis für seine Lust. Er kann mit ihr über Eis reden. Es in ihrer Gegenwart zu löffeln oder zu lecken, vermeidet er aber. Denn dann will sie auch eins. Trotz Gewichtsproblemen. Eislust ist in seiner Szene — Künstler außerhalb der Verbände — weit verbreitet. „Es gab Sonntage, da schwärmten wir aus und erzählten uns abends unsere Erfahrungen.“ Ist es auch zu Selbstversuchen im Eisschrank gekommen? Bei ihm jedenfalls nicht. Er hat keinen Eisschrank. Nur einen „Kühlschrank“. „Der schafft es zwar, meine Lebensmittel unter acht Grad Celsius zu halten, aber Eis bringt der nicht, höchstens Eissauce.“

Ende der Achtziger zeigen sich in der DDR auch eismäßig Auflösungserscheinungen: Im „Palast-Hotel“ wird nicht nur mit Schalck-Waffen und Ostfrauen gehandelt, sondern auch mit sogenanntem Westeis. Der Eisfan nutzt den Besuch eines Westfreundes, um in diesem Vorhof des Kapitalismus sein „erstes Westeis“ zu versuchen.

„Schlechtes Langnese“, kommentiert der Wessi, überheblich schon vor der Wende. Der Ossi von heute weiß die Verletzung abzufedern: „Wahrscheinlich war's ostgemacht, nur mit Westzutaten, und die gestreckt wie Heroin.“ Hätte eine aufs Eis begrenzte Marktwirtschaft, hätte Schöller die DDR retten können? Mein Gegenüber schüttelt den Kopf: Welcher Westdealer hätte schon Ostwährung haben wollen?“ Darum hätten sie doch auch bis zur Währungsumstellung nur einheimische Drogen wie den Alk gehabt.

Nach Öffnung der Mauer ist er zuerst von den vielen Eissorten verwirrt. „Die einfarbigen gehen ja noch, aber die in sich bunten!“ Er probiert rundum und kommt immer wieder auf Nußeis. Das wächst ihm ans Herz, „konsequent“: Wenn er sich irgendwo auf der Autobahn irgenein anderes Eis kauft, hat er „nachher das Gefühl, ich muß mir das Nußeis trotzdem noch kaufen.“ Warum ausgerechnet Nuß? „Das ist so eine typische Wendegeschichte: Wenn die anderen Ossis mit einer Banane rumrennen, lecke ich mein Nußeis. Es muß da irgendwie einen Mangel gegeben haben.“ Er wehrt sich gegen erotische Interpretation, erklärt seine Vorliebe „mit den Energien, die in der Nuß sein sollen, angeblich nervenstärkend oder sowas, wie Müsli-Essen.“

Und welche Eissauce ist ihm die liebste? „Da habe ich noch nicht den Überblick.“ Kopf statt Bauch — ist die intellektuelle Rangehensweise Indiz seines Berufs? Er zitiert ironisch aus dem Ostfilm Die Entfernung zwischen dir und mir und ihr: „Ich mach' so in Kunst.“ Im Ernst ist er: „Autor und Herausgeber originalgraphischer Bücher.“ Hat er schon mal geschrieben über seine Leidenschaft, über Speiseeis? Nein, „eigentlich komisch.“ Aber er findet eine Erklärung: „Auch die schönste Eiskarte kann keinen Eisbecher ersetzen.“ Das hält ihn nicht ab, sich aktuelle Gedanken zum Eis in all seinen Formen zu machen. Die Kugel ist für ihn nur Konvention. Da ließe sich Neues finden, quadratisch, praktisch, aber nicht in Schachteln: „Die Eispraline ist pervers.“ Dann lieber Kunsteis: das Gedicht im Eisblock eingeschmolzen, der langsam taut, oder Landart mit Eisbechern. Die Entwicklung der Speiseeis-Kultur sollen andere vorantreiben: „Ich bin der Konsum.“ Dem sind im Osten noch Grenzen gesetzt. Italienische Eisdielen gibt's im Beitrittsgebiet nicht. „Als Ausländer haben die bei uns keine Chance.“

EISBILDUNG