Glaube nichts, alles ist wahr

■ Gesualdo Bufalinos Roman „Die Lügen der Nacht“

Der Autor läßt uns die Wahl: Je nach Wunsch dürfen wir seinen Text als „historische Phantasie“, als „metaphysischen Krimi“ oder als „moralische Legende“ verstehen. Dieses großzügige Angebot macht Gesualdo Bufalino uns in einem kleinen Verzeichnis „Sachdienlicher Angaben“, das er seinem Roman Die Lügen der Nacht nachgestellt hat. Keine der drei Bezeichnungen, die Bufalino uns hier unter dem Stichwort „Gattung“ ironisch anträgt, wird dem Roman gerecht. Dem Leser ergeht es auch am Ende des Buches noch einmal so, wie es ihm auf den vorangegangenen zweihundert Seiten ergangen ist: er wird nach Strich und Faden belogen. Verschiedene Möglichkeiten werden ihm angeboten. Keine ist ganz von der Hand zu weisen, aber nicht eine von ihnen ist wirklich ernst gemeint. Die Lügen der Nacht sind ein fintenreiches Maskenspiel, das seinen tatsächlichen Gegenstand kunstvoll hinter historischer Fassade, philosophisch-politischem Disput verbirgt. Bufalino zielt dabei auf nichts Geringeres. Es geht um das Leben, das der Erzähler immer wieder mit einem Schauspiel, einem Drama vergleicht. Und es geht um den Tod, unser aller „finsteres Vaterland“. Auf einer Gefängnisinsel im Mittelmeer sitzen vier Freiheitskämpfer, die wegen ihrer revolutionären Umtriebe zum Tode verurteilt sind. Der Ort ist Italien, die Zeit das 19.Jahrhundert. Den historischen Hintergrund gibt das Risorgimento ab. Die Gefangenen sind Mitglieder eines Geheimbundes, dessen legendärer Anführer „Gottvater“ genannt wird. Ihm gilt das ganze Interesse des Gouverneurs der Insel, der zugleich der Kerkermeister der Revolutionäre ist. Der Gouverneur schlägt seinen Gefangenen ein Geschäft vor: Ist nur einer unter ihnen bereit, die wahre Identität des „Gottvaters“ zu verraten, wird allen vieren die Freiheit geschenkt. Als Bedenkzeit verbleibt ihnen lediglich eine Nacht. Der Lärm der Handwerker, die im Gefängnishof eine Guillotine errichten, dringt in ihre Zelle, in der ein fünfter Gefangener gemeinsam mit ihnen auf seine Hinrichtung wartet. Es ist der berühmte Bandenführer Frater Cirillo. Auch er hat ihnen einen Vorschlag zu machen. Die Gefangenen, denen ein bloßer Name, ein einziges Wort nur, Leben und Freiheit wiedergeben könnte, sollen sich die Nacht über Geschichten erzählen und im Angesicht des Todes von ihrem früheren Leben sprechen. Von einem Wendepunkt sollen sie berichten oder von einem Moment größten Glücks. Gleichzeitig wollen sie, indem sie sich gegenseitig ihr Schicksal erzählen, ihrem Leben einen Sinn geben. Sie wollen herausfinden, warum sie sterben und ob sie „eine Entschuldigung für Gott“ oder sich selbst finden, bevor der Tag anbricht.

Die Rahmenhandlung ist ausgeklügelt, der Knoten meisterhaft geschürzt. Die Anleihen bei Boccaccios Decamerone sind unübersehbar, aber aufschlußreicher sind zwei Anspielungen gegen Ende des Buches, wenn in einem Nebensatz Shakespeares Zauberer Prospero und Calderóns träumender Königssohn Sigismund erwähnt werden und Bufalino wieder auf sein eigentliches Thema anspielt: auf die zweifelhafte Konsistenz von Identität und Wirklichkeit und auf die Macht des Erzählens, die Realität vortäuschen und Sinn konstituieren kann. Die vier Erzählungen der Gefangenen, die den Hauptteil des Buches ausmachen, illustrieren dieses Thema und sind zugleich Teil jener Maskerade, die den ganzen Roman durchzieht.

Die Geschichten, die die vier allegorischen Gefährten — der junge Narziß und der alte Baron, der Dichter und der Soldat — nun erzählen, entdecken uns nur scheinbar etwas über die Menschen, von denen sie berichten. Vordergründig handeln sie von außergewöhnlichen Schicksalen, von kurzem, rasch wieder verlorenem Glück und mehr noch von anhaltendem Unglück. Sie erzählen von Vatermord und Liebesleid, von tödlichen Begegnungen und nagender Einsamkeit. Daß die Erzähler mitunter etwas beschönigen und von Frater Cirillo sogar kleiner Lügen überführt werden, macht ihre Geschichten im Kern nur um so glaubhafter. Aber sie alle verschleiern letztlich mehr, als sie enthüllen. In einer doppelten Volte am Schluß des Buches, von der hier nichts verraten werden soll, klärt der Autor uns über alles auf und stürzt uns damit endgültig in den Abgrund des Zweifels. Die Wahrheit verschwimmt vollends, und die Menschen scheinen kaum mehr als „Seifenblasen aus dem Strohhalm eines bösen Zauberers“. Zwischen den Zeilen aber gibt uns Bufalino schließlich doch noch einen Rat, dem wir im Reich des Erzählens getrost vertrauen dürfen: Glaube nichts, denn alles ist wahr. Hubert Spiegel

Gesualdo Bufalino: Die Lügen der Nacht . Roman. Aus dem Italienischen von Marianne Schneider. Suhrkamp Verlag, 206 Seiten, 32DM