Tanzende Geste

■ Zeichungen von Evelyn Kuwertz im Bahnhof Westend

Daß aus der Bewegung, aus der Geste heraus in der Malerei Bilder entstehen, das kennen wir aus den Action-Painting-Zeiten und von den heute so harmlos wirkenden »Neuen Wilden«. Daß versucht wird, auf Bildern Bewegung festzuhalten, auch diese Versuche kennen wir, seit es die italienischen Futuristen Carlo Carrá und Umberto Boccioni versucht haben. Der interessanteste und wohl meist bekannte Versuch in diese Richtung ist Marcel Duchamp zuzuschreiben mit seinem Nu descendant un Escalier (1912). Der gleichen Thematik stellte sich in den letzten Jahren auch die seit 1969 in Berlin lebende Malerin Evelyn Kuwertz. Die Ergebnisse dieser Bemühungen sind jetzt im alten S-Bahnhof Westend zu sehen.

Auf den Zeichungen gerät sofort alles in Bewegung. Zwar haben einige noch einen festen, statisch wirkenden Hintergrund — eine angedeutete Stadtsilhouette, Brückenpfeiler, Wandteile, ein Bahnhofsinneres — aber die Figuren, die sich davor schemen- und schleierhaft bewegen, lassen diese Hintergründe gleich in den allgmeinen Strudel geraten. Die Figuren nehmen diese Hintergründe nur noch zum Anlaß wie einen gebohnerten Tanzfußboden, auf dem man unbeobachtet sich bewegen kann.

Es sind fast ausschließlich weibliche Figuren, die auf den Blättern tanzen, herumwirbeln und an allen Stellen, an denen ihre Körperteile in der Tanzfigur vorbeihuschen, mit dem Stift, dem Pinsel festgehalten werden. Eine Tänzerin auf dem Rücken liegend und mit den Beinen in der Luft laufende Bewegungen wie auf dem Fahrrad vorführend: wie auf einer mehrfach belichteten Fotografie werden von der Malerin/Zeichnerin die einzelnen Bewegungsphasen schnell mit dem Farbstift, mit der Kohle nachgezeichnet, noch einmal in Schwung gebracht. Aber es ist eben nicht nur das Festhalten der vorgefundenen, tanzenden Geste — das Zeichnen ist selbst Geste. Es vollzieht sich beim Zeichnen nochmal dieser Akt der Bewegung: mal mit spitzem Stift die Körperteile nachzeichnend, mal mit breiter Kohle die Volumina andeutend.

Diese eine Figur und dieser eine Tanz scheinen immer die gleichen zu sein. Nur die Posen sind von Bild zu Bild, von Zeichnung zu Zeichnung anders. Auch der Titel Figur in Bewegung wird allen Zeichnungen verpaßt; gleichsam so, als ob man mit dem Daumenkino spielt. Mal liegend, mal die Arme ausbreitend, mal die Glieder schwenkend, bewegt sich die Figur in einem imaginären Raum, auf dem Blatt. Auf einigen Blättern werden die Bewegungen der Ausführung, die Malgeste und die aufgetragene Gouache und die Tusche noch einmal mit dem spitzen Buntstift nachvollzogen: auf diesen Blättern scheinen bei den verschieden festgehaltenen »Bewegungsphasen« bunte Scheinwerferlichter auf den Körper zu treffen. Die spitzen Striche machen zudem die Bilder auf eine besondere, nicht näher bestimmbare Weise schneller, flüchtiger.

In der oberen Halle des Bahnhofes hängen dann eine Reihe von Blättern (großformatig 200*95 cm), deren Titel durchweg zwar auch wieder »Figur in Bewegung« lautet, die aber trotz alledem eine eher ruhende, versunkene, fast kontemplative Ausstrahlung haben. Die erkennbare, weibliche Figur mit geschlossenen Augenlidern, schlaf- oder traumversunken, man weiß nicht, ob gebettet oder an die Wand gelehnt, schlafwandelnd oder tanzend — sie ist trotz aller Bewegung weggesunken. Ein anderes Blatt, auf der zwei erkennbare Figuren zusammensinken, gebeugt und in den anderen Körper eintauchend, schemenhaft hält auch der Betrachtung stand, daß es die eine ausschließliche Figur ist, die auf allen Blättern sich bewegt: nur eben wieder in Phasen zerlegte Bewegung, Mehrfachbelichtung.

Am ausdrucksstärksten sind allerdings die Zeichnungen auf Transparentpapier. Hier wird die Bewegung, die eine raumgreifende Geste in den Hintergrund des Bildraumes gelenkt, sozusagen auf diesen verwiesen: man schaut eben durch die Maloberfläche hindurch, nicht wie bei Glas, sondern milchig, wie es nur Transparentpapier zuläßt. Dort hinten — oder hier vorn — rudert dann der Arm, wie auf einem Vexierbild: wo ist wo? Ob mit Kohle, mit Öl oder Kreide — immer scheint durch die nichtbemalte Fläche, aber auch eben durch die Farbe, ein weiterer Raum hindurch, öffnet sich die zweite, dritte, eine Zeitdimension.

Schwach wirken dagegen die Kohleabstraktionen auf Bütten, auf denen die Bewegung nur noch in dumpfen Fäden und ziellosen Strichen dargestellt wird: aber es bleibt Versuch. Leblose Kompositionen, keine Geste verdeutlichend, sondern nur noch die Mallust des Kindes auf der Ebene des Erwachsenen, der eben die Kraft der Kinderzeichnung völlig abgeht, diese nie erreichen kann.

Nur Striche auf Papier, mit Ausdruck und den Beschauer in seinen Bann ziehend: das ist wohl die höchste Kunst, die ein Maler/Zeichner erreichen kann. Man sollte diesen Beitrag der Kunst allerdings denen überlassen, die ihn wirklich beherrschen, ihn nur in aller Unschuld so machen müssen. Evelyn Kuwertz sollte bei ihrer Kunst bleiben. Martin Kieren

Evelyn Kuwertz: Zeichungen , Ausstellung in der Künstlerwerkstatt Bahnhof Westend, bis 10. November