Über verlorene deutschjüdische Kultur

■ Gert Mattenklott eröffnete ein Uni-Symposium über die Jüdische Kultur

Es gab einmal eine deutsche Kultur, die nicht provinziell und spießig war. Es gab in Deutschland eine Kultur, die sich nicht anbiedernd an die dumpfen Gefühle des Volkes wandte. In dieser Kultur waren Moral, Kritik und Ästhetik unlösbar verknüpft. Ihre Vertreter waren in erster Linie Juden.

An die nicht wieder auszufüllende Lücke, die durch den Verrat und den Mord der Deutschen an ihren Mitdeutschen geschaffen wurde, erinnerte der Marburger Literaturwissenschaftler Gert Mattenklott am Mittwochabend in einem Vortrag über die „Kulturgeschichte einer deutsch-jüdischen Symbiose“. Er eröffnete im gut gefüllten Kapitelsaal der St.Petri Domgemeinde ein Symposium der Universität zur jüdischen Kultur in Deutschland.

Die Juden gehörten zur deutschen Kulturnation. Sie kooperierten mit jenen guten Geistern deutscher Klassik und Romantik, die sich für die Bildung einer deutschen Nation einsetzten, die Reife nicht durch staatliche Selbstbeschränkung, sondern durch Fühlungnahme mit der Welt zu erlangen hoffte.

Mattenklott entwarf das Bild eines gelungenen geistigen Bündnisses, in dem deutsche und jüdische Traditionen im Traum von einer Kulturnation mündeten, die universelle Geltung beanspruchen konnte. Mangel an Eigenstaatlichkeit war eine Voraussetzung: Aus der Verschmelzung und Verschränkung einer sowohl deutschen wie jüdischen Aufbruchsbewegung seit Ende des 18 Jahrhunderts entstand ein gemeinsames Elitebewußtsein.

Goethes Faust, Inbegriff deutscher Unruhe und Zwiespältigkeit, nahm Mattenklott als literarisches Beispiel für die Einbeziehung jüdischer Motive in ein Hauptwerk deutscher Kultur, die eben nicht nur aus antiken und christlichen Quellen schöpfte. Ausgangspunkt dieser deutschen Kultur war das Individuum und Horizont die Menschheit. Es interessierten weder Stammes- noch Staatszugehörigkeiten.

Juden und Deutsche arbeiteten seit Lessing und Mendelssohn und Goethe und Heine als „geeinte Zwienatur“ an der Bildung einer deutschen Kulturnation. Es war eine kleines kosmopolitisches Gewächshaus inmitten nationalistischer deutscher Misere. Die Juden zählten in Deutschland nur ein Prozent der Bevölkerung. Aber sie lebten zumeist in den Großstädten wie Berlin und Frankfurt und waren überproportional stark im dortigen kulturellen Leben verankert. Sie bildeten das europäisch-urbane Element in den deutschen Ländern.

Theodor Lessing, Kurt Tucholsky, Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Ernst Bloch, Walter Benjamin: Ihr zumeist liberaler und kritischer Geist war für das dumpfe Ressentiment deutscher Untertanen nicht nur des Teufels, sondern auch als Zielscheibe geeignet. Der Antisemitismus schuf mit den Juden nicht nur Sündenböcke für gesellschaftliches Elend, mit ihnen entledigte man sich auch eines kulturellen Anspruchs. Die jüdische Kultur in Deutschland sei nicht ersetzbar, erklärte Mattenklott. Die gegenwärtige Imitationskultur könne darüber nicht hinwegtäuschen. Peter Burmeister