Unter Deutschen stellte man sich nur Kartoffelesser vor

■ Der Kreuzberger Arzt Ümit Uygun kam nach Deutschland, als hier erst 6.000 Türken lebten/ Anfangs wurde er noch als »Waffenbruder« umarmt

»Ich bin kein Träumer, aber es muß möglich sein, daß alle Menschen in Berlin ein würdiges Leben führen.« Mit Sorge verfolgt der Kreuzberger Arzt Ümit Uygun die jüngsten Entwicklungen in Deutschland. »Fremdenhaß, die Unterteilung der Menschen nach längst überholten Kriterien — gegen diese Tendenzen muß schnell eingeschritten werden.«

Mit einem Schuß Nostalgie erinnert sich Ümit Uygun (65) an die harmonischen Jahre der Vergangenheit. Als der junge Arzt im Juni 1963 erstmals nach Deutschland kam, war »München eine sehr lebendige Stadt, die Menschen waren freundlich, hilfsbereit und ehrlich. Viele gingen interessiert auf mich zu, manche umarmten mich gar als ‘Waffenbruder‚ von damals.« Herzlichkeit war Trumpf. Die Deutschen bemühten sich, ihr internationales Image aufzupolieren. Holocaust, Nationalsozialismus — angestrengt zeigte man sich der Welt als geläuterte Nation.

Bemühungen, die nicht immer gelangen. »Die Deutschen entsprachen keineswegs dem Bild, das wir uns in der Türkei von den Europäern machten. Sie wirkten etwas provinziell und bäuerlich.« Erstaunt registrierte der Neuankömmling, wie wenig Kenntnisse die Deutschen von der Türkei hatten. Ein Onkel, der seit 1917 in Berlin lebte und in der Kantstraße, Ecke Uhlandstraße bis 1945 das erste türkische Restaurant der Stadt führte, lüftete für Ümit Uygun das Geheimnis des deutschen »Gefühlsstaus«.

Kaum ein »Gastarbeiter« aus der Türkei hat sich in den 60er Jahren Gedanken darüber gemacht, was die Deutschen für ein Volk sind. Erst Ende der 70er Jahre, so Ümit Uygun, als »Ausländer raus!«-Parolen auftauchten und auf Spielplätzen Losungen wie »Wir machen Hackfleisch aus euch« auftauchten, wurden viele Einwanderer nachdenklich. »Meine Landsleute begannen, Parallelen zum Nationalsozialismus zu ziehen, und bei einigen keimten Ängste, die Deutschen könnten mit uns ähnlich verfahren wie mit den Juden.«

An jenem 21. Juli 1963, als Ümit Uygun mit dem Nachtzug in Berlin ankam, schienen die Deutschen im reinen mit sich selbst zu sein. Die Wirtschaft boomte, und die ankommenden »Gastarbeiter« waren Hoffnungsträger des Wirtschaftswunders. Mit blumigen Worten wurden sie von Wirtschaftsvertretern und Politikern willkommen geheißen. Der schier unerschöpfliche Bedarf an Arbeitskräften machte auch aus dem Touristen und Berlinbesucher Ümit Uygun einen Einwanderer.

»Eines Morgens saß ich mit meinem Onkel auf dem Balkon, als er mir eine Stellenanzeige vorlas. Man suchte Ärzte.« Anfang der 60er Jahre fehlten in Deutschland Spezialisten in den schwierigen Disziplinen der Neurologie, Gynäkologie, Chirurgie. Fachärzte aus der Türkei waren hochwillkommen. Der Grund: Fast ausnahmslos studierten sie an der besten »deutschsprachigen medizinischen Fakultät«, die es zwischen 1936 und 1953 gegeben hatte — der »Istanbul Universitesi«. 1945, als der damals 19jährige Ümit Uygun sein Studium in der medizinischen Fakultät der Universität Istanbul aufnahm, dominierten deutsche Professoren die Lehre. Mehr als 100 Wissenschaftler, die vor den Nazis geflohen waren, fanden mit ihren Familien in Istanbul eine neue Heimat.

1963 stellte sich Ümit Uygun im Fontane-Krankenhaus vor. Sowohl das Personal als auch die Patienten nahmen »ihren Herrn Doktor« wohlwollend an. Türkische Mediziner gehörten zum Berliner Alltag. Im Sommer 1963 lebten rund 1.000 Türken in Berlin. 500 waren Studenten und Studentinnen, etwa 170 Ärzte mit ihren Familien, einige Geschäftsleute, die wenigsten waren zu diesem Zeitpunkt Arbeiter in den Fabriken. »Die Kollegen respektierten meine anfänglichen Schwierigkeiten«, erinnert sich Ümit Uygun. Im Oktober 1965 wechselte er in die städtische Lungenklinik Havelhöhe. »Die Hälfte der Ärzte waren Ausländer.«

Mitte der 50er Jahre erschütterten ökonomische Krisen die Türkei. Millionen von Menschen verloren in den Dörfern ihre Arbeit und strandeten in den Gecekondus, den Slumgebieten am Rande der Großstädte.

Als am 30.10.61 das Abkommen über die Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften in Kraft trat, waren dennoch viele Arbeitslose, die Richtung Westeuropa drängten, enttäuscht. Der Sprung war schwierig. Ärztekommissionen kamen in die Türkei. »Bewerber« für die Fabrikarbeit in Deutschland wurden eingehend untersucht. In einer langen, aufwendigen Prozedur wurden die qualifiziertesten, kräftigsten und gesündesten Männer und Frauen ausgesucht. Um eine optimale Verwertung zu garantieren, wurden sie je nach Verwendungszweck verschiedenen Kategorien zugeteilt. »Die Verhältnisse in jener Zeit erinnerten mich oft an Menschenhandel.«

Es waren die Mutigsten, körperlich und psychisch Stärksten, die vor 30 Jahren den Schritt in eine andere Welt wagten. Große Ernüchterung setzte ein, als viele Menschen merkten, daß die für türkische Verhältnisse phantastisch hohen Löhne angesichts hoher Mieten und Lebenshaltungskosten am Monatsende auf wenige Mark zusammengeschmolzen waren. Wenig blieb für die Überweisungen an die Familien zu Hause übrig. »Neben dem Traum Deutschland nahm langsam auch ein Schreckensbild Konturen an.«

Bevor sich dieses Bild in den kommenden Jahren zum Teil bestätigte, »hatten wir eine Reihe von Vorurteilen über die Deutschen zu korrigieren«, betont Ümit Uygun. Das eine war die Vorstellung des »ewigen Kartoffelessers«, das andere, weitaus schlimmere, betraf die deutschen Frauen. »Man flüsterte, die Frauen hierzulande seien immer bereit und die deutschen Männer von der harten Arbeit stets müde.« In zahlreichen Gesprächen versuchte der Arzt das verzerrte Bild junger Einwanderer zurechtzurücken.

Im Frühjahr 1971 drohte Ümit Uygun die Entlassung und Ausweisung. Der Mangel an deutschen Ärzten war inzwischen behoben. In einem Gespräch wurden ihm seine »Wahlmöglichkeiten« eröffnet: »Entweder ich eröffne eine eigene Praxis, wenn nicht, würde meine Berufserlaubnis nicht verlängert.« Die Ärztekammer und der Chefärzteverband drängten trotz des anfänglichen Widerstands des Senats darauf, die Niederlassung türkischsprechender Ärzte zuzulassen — eine Entscheidung, die Ümit Uygun im nachhinein begrüßt.

Als im Verlauf der 60er Jahre Zigtausende junger und gesunder Arbeitskräfte aus der Türkei nach Berlin gerufen wurden, dachte niemand daran, daß die psychosoziale und medizinische Versorgung der Einwanderer einmal Probleme aufwerfen könnte. Psychosomatische Erkrankungen sind bei der ersten Generation der Einwanderer heute entschieden höher als bei den Deutschen.

Die Ursachen hierfür sind in dem von vielen Unsicherheiten gekennzeichnten Leben der Einwanderer zu suchen. »Vor allem Einwanderer aus den ländlichen Regionen leben in einer permanenten Streßsituation. Diesem Sammelsurium von Gefühlslagen, das sich erst entschlüsselt, wenn man sich intensiver mit den Biographien und der Herkunft dieser Menschen beschäftigt, stehen deutsche Mediziner häufig hilflos gegenüber.«

Nicht selten sind psychosomatische Erkrankungen auch Folgen diskriminierender Gesetze. Mitte der 70er Jahre endete die friedliche Koexistenz zwischen Deutschen und Einwanderern, beobachtete Ümit Uygun. »Damals fragte mich mein in Berlin geborener Sohn erstmals, weshalb die Deutschen Türken nicht leiden können.«

Um so mehr freut sich der Kreuzberger Arzt, daß sich seit 1980 die Stimmen gegen Fremdenhaß organisierten. »Immer häufiger hörte ich von diesen Menschen den Satz ‘Ich schäme mich dafür, was auf den Straßen und in den Parlamenten passiert‚.« Gemeint waren damit unter anderem der »Lummer-Erlaß«, der die Familienzusammenführung erschwerte, und die Revisionen des »Ausländerrechts«, das die Möglichkeiten eines menschenwürdigen Lebens von Familien einschränkte.

Skalitzer Straße. Hoch über dem hektischen Treiben rund um das Kottbusser Tor betreibt Ümit Uygun seine Praxis. Verkehrslärm dringt bis zur fünften Etage. Vom Fenster seines Büros hat der Arzt einen phantastischen Blick über »seinen« Kiez. »Es ist ein bedrückender Gedanke, daß unser Kreuzberg bald nicht mehr der alte Kiez sein wird. Die Hauptstadt wird davon nicht mehr viel übriglassen.«

Die Bilanz der ersten 30 Jahre: »Trotz aller Widerstände sind wir Berliner geworden. Wir leben und arbeiten hier. Unsere Kinder sind sogar echte Berliner. In allen Berufssparten sind wir vertreten. Dennoch können wir uns nicht an der politischen Entwicklung dieses Landes beteiligen. Aber dies wird sich ändern.« Eberhard Seidel-Pielen