Klingt gut und fertig

■ Ein Gespräch mit dem englischen Musiker und Produzenten Tim Hodgkinson über Lärm, Belcanto, John Zorn und ein Problem mit den Studioregisseuren der BBC

Im Jahre 1968 gründete der Saxophonist Tim Hodgkinson zusammen mit Fred Frith die einflußreiche Band „Henry Cow“. Eine der wichtigsten Bands der englischen Avantgardeszene, die in ihren Kompositionen sowohl moderne Klassik als auch Rock, Jazz und freie Improvisation miteinander verschmolz. „Henry Cow“ waren während ihrer zehnjährigen Bandgeschichte auch eine Art Brutstätte beziehungsweise Durchlauferhitzer der englischen Avantgardeszene. MusikerInnen wie Chris Cutler, Dagmar Krause, Lindsay Cooper und viele andere durchliefen das Line-up der Band. Cutler bezeichnet die Musik von Henry Cow als die „komplexeste geschriebene Rockmusik“, die je gespielt worden sei.

Jüngst wiedererschienen sind: Legend, Unrest und In praise of learning (BRD-Vertrieb: no man's land, Postfach 110449, 8700 Würzburg). Tim Hodgkinson arbeitete später als Musiker und Produzent unter anderem mit Robert Wyatt, John Zorn, Hermine und Fred Frith zusammen. Er spielt zum Beispiel in der schönen Frith-Filmdokumentation Step across the border mit.

Gegenwärtig spielt Hodgkinson gleichzeitig in drei Projekten: dem Trio „The Momes“, dem Quartett „The Work“ und der zehnköpfigen Gruppe „God“, einem bemerkenswerten Projekt, das Hardcore mit freier Improvisation verbindet. Von „God“ erscheint in diesen Tagen beim französisch-deutschen Undergroundlabel Permis de construiere (BRD-Vertrieb: Semaphore) eine erste LP.

Mit seiner Band „The Work“ geht der Engländer im November/ Dezember auf eine Europatournee. Die Gruppe ist dabei an vier Tagen auch in deutschen Städten zu Gast: am 22.November in Berlin (Insel), am 28.November in Nürnberg (KOMM), am 30.November in Konstanz (Kulturladen) und am 4.Dezember in Villingen- Schwenningen.

Das Interview mit Tim Hodgkinson entstand in dessen Haus, das er zusammen mit einigen Freunden bewohnt im schwarzen Londoner Stadtteil Brixton.

taz: Du machst jetzt seit fast 25 Jahren Musik. Wie begann deine Karriere als Musiker?

Tim Hodgkinson: Während der Schulzeit war ich sehr an Jazz interessiert und spielte Saxophon. Wir spielten damals John-Coltrane- Nummern und machten Happenings. Die Leute waren zu der Zeit ja schon dankbar, wenn du Papierschnitzel ins Publikum geworfen hast. Auf der Uni — ich studierte in Cambridge Anthropologie — lernte ich später Fred Frith, einen Gitarristen, kennen. Wir spielten zusammen in einer Tanzband freie improvisierte Musik.

Freie Improvisation zum Tanzen?

Ja, wirklich. Ich erinnere mich an ein Stück, das wir spielten, worin es um die Zündung einer Atombombe ging. Also mußten wir eine ganze Menge ohrenbetäubenden Lärms machen.

Daraus erwuchs dann „Henry Cow“?

Fred hatte schon vorher eine Band und drängte darauf, etwas Neues zu starten. Ich konnte nicht besonders gut spielen, während Fred viel mehr Technik hatte. Er hatte als Kind eine gute Ausbildung an der Violine, während ich zwar Klavierstunden nahm, aber nie ein besonders guter Schüler war. Aber ich hatte diese Ideen von Sounds, die ich hören wollte, im Kopf. Wir begannen ein bißchen Blues zu spielen. Später trafen wir diesen Typen, Andy Powell, der uns für kompliziertere Musik interessierte. Offensichtlich war Andy sehr von den Sachen, die die „Soft Machine“ damals machten, beeinflußt. Wir fingen an, in seltsameren, ungleichmäßigeren Taktarten, in Siebenachteln, zu spielen. Wir starteten einen Prozeß des musikalischen Experiments, ohne genau zu wissen, wohin er uns führen wird. Natürlich verloren wir unser Blues-Publikum, denn die Musik wurde härter und seltsamer.

Das muß zu der Zeit, Ende der sechziger Jahre, für das rock- und beatgewohnte Publikum doch recht merkwürdig gewesen sein?

Eigentlich war derjenige, der das alles popularisierte, Dave Brubeck. Sowohl sein „Unsquare dance“ als auch „Take five“ waren in Siebenachteln. Ich meine, Jazz war ansonsten genau wie die schwarze amerikanische Musik in Vierteln. Wohingegen afrikanische Musik rhythmisch sehr verschieden ist.

Deine ganze Arbeit mit „Henry Cow“, aber auch mit den späteren Projekten, ob nun „God“ oder „The Work“, zeigt, daß du immer sehr an Rhythmen interessiert warst.

Ja, ich erinnere mich zum Beispiel an einen tollen Film, von dem ich leider den Titel nicht mehr weiß. Dort reisen einige schwarze Musiker aus den USA, Motown-Leute, mit dem Flugzeug zu einem Festival nach Westafrika. Auf dem Flughafen werden sie von einer riesigen Menge von Leuten empfangen, die sie mit Musik begrüßen. Die Rhythmen waren so seltsam, fortschrittlich und sophisticated, verglichen mit dem, was die Amerikaner spielen — was in ihrer eigenen Art und Weise funktioniert, ich will nicht Motown niedermachen. Aber in Afrika ist es doch noch ganz anders. Selbst wenn dort auch manche Lieder in Viervierteln sind, haben sie einfach so viele Cross- Rhythmen, die wirkliche Cross- Rhythmen sind, also nicht nur als Dekoration funktionieren. Sie haben ein anderes rhythmisches Konzept des Beats, das wir im Westen nicht haben. Ich denke, seit man begonnen hat, die Musik niederzuschreiben, tendiert man im Westen dazu, rhythmisch extrem zu vereinfachen. Stravinsky war andererseits wirklich ein Ikonoklast, der verschiedene Metren in „Le sacre du Printemps“ und anderer Musik verwendet. „Le sacre du Printemps“ war übrigens immer ein großer Einfluß für mich.

Zurück zu „Henry Cow“. Es stießen ja immer mehr Leute zur Band dazu: Chris Cutler, Dagmar Krause, Lindsay Cooper und andere mehr. Kanntet ihr euch vorher schon, oder wie hat sich das entwickelt?

Chris haben wir durch eine Anzeige im 'Melody Maker‘ kennengelernt. Es war zu der Zeit sehr schwer, einen Drummer zu finden, der unser Zeug spielen konnte, der in der Lage war, in notierten Tempi zu spielen. Bei „Henry Cow“ gab es in der zehnjährigen Bandgeschichte eine Art Kommen und Gehen der Leute, was aber funkionierte. Die Sache ist, wenn einmal die Arbeit einer Gruppe ein bestimmtes Level erreicht hat, es einen Arbeitskörper („body of work“) gibt, der ziemlich stark ist, können die Leute kommen und gehen. Das Projekt ist dann nicht so zerbrechlich, als daß es zerfiele, wenn jemand die Gruppe verläßt.

Waren „Henry Cow“ also mehr ein Konzept denn eine Band im traditionellen Sinn?

Nein, es war eine Band mit Konzept. Wir hatten unseren Arbeitsstil entwickelt. Während wir zu Anfang stark von Musik, von Dingen außerhalb beinflußt waren, von Musik, die länger zurückliegt — unter anderem von zeitgenössischer klassischer Musik, aber auch von Folk — beeinflußte uns irgendwann unsere Arbeit selbst. Wichtige Einflüsse waren sicherlich unter anderem Soft Machine, Edgar Varese und Sun Ra.

Woher kam eigentlich euer Name? Es gibt da verschiedene Gerüchte.

Don't know, what bubbled my from the unconscious. Der kam irgendwie aus dem Unbewußten. Okay, es gibt diesen Komponisten Henry Cowell, der sicherlich nicht so weit von uns entfernt und dessen Musik mit uns verbunden ist. Cowell war ein Autodidakt, der in Amerika eine Menge interessanter rhythmischer Arbeit gemacht hat. Aber wir haben uns nicht nach ihm benannt, wir lernten seine Arbeit erst später kennen. Interessanterweise schrieb uns damals seine Witwe, als sie von „Henry Cow“ gehört hatte, einen Brief.

Laß uns über deine anderen Projekte reden. Derzeit spielst du unter anderem mit „God“ zusammen, einer Band, die hardcoreartige Rhythmen mit freier Improvisation verbindet.

Es ist eine Hardcoreband. Aber ich habe schon viele Hardcorebands gesehen, und ich denke, unsere Rhythmussektion (zwei Drums, zwei E-Bäße, Percussion und Kontrabaß, d. V.) ist wirklich sehr gut. Lou ist der beste Drummer, mit dem ich seit Jahren zusammengearbeitet habe. Er und der andere Drummer sind beide aus Chicago. Gut ausgebildete Musiker. Beide lesen Musik, und sie haben sich ihre Drumarbeit bei „God“ — was keiner weiß — auf Blätter vorgeschrieben. Vor Konzerten siehst du sie zum Beispiel im Umkleideraum zusammensitzen mit ihren „Musikbüchern“ und herumtrommeln und probieren. Einiges ihres Materials spielen sie wirklich zusammen, exakt getimet, was einen überraschenden Effekt gibt. Das sind aber keine normalen Breaks, sondern ausgefuchste, verrückte Sachen, die die spielen. Und sie bringen es gleichzeitig.

Ein Kontrabaß und drei Saxophone — das sieht man auch in einer traditionellen Hardcoreband nicht unbedingt häufig?

(Tim lacht über den Ausdruck „traditionelle Hardcoreband“) Ich denke nicht, ich hab's vorher auch nie gesehen. Das hat sich so entwickelt. Ich bin erst später zur Gruppe gestoßen. Kevin, der Sänger der Band, ist derjenige, der „God“ organisiert. Er hatte das Gefühl, er müsse die Gitarren immer mehr rauslassen und dafür Saxophone einbringen. Er fing selbst damit an und spielte in den Pausen, wenn er nicht sang, Sax. Ich stieg später ein. Auch der Kontrabaß kam irgendwie zur Band dazu. Ich persönlich würde sehr gerne bei einem Stück noch mit zusätzlichen Trompeten arbeiten.

Für uns ist die Kombination von Hardcore und Improvisation sehr interessant. Es gibt auch in London diese Sub-Connection — vielleicht nicht ganz so ausgeprägt und klar wie in New York — zwischen Musikern, die frei improvisieren und Thrash- und Hardcorebands.

Du erwähntest, du hättest schon einige Hardcorebands gesehen, was gefällt dir daran?

Natürlich tendiere ich dazu, eher die weniger „traditionellen“ Hardcorebands zu sehen. Napalm Death sind meine Favoriten, vor allem wegen der Rhythmen. Ich mag ihre Art zu spielen. Daß ein Song nur eine Minute lang ist und sechs verschiedene Rhythmen darin enthalten sind. Das klingt wirklich gut.

Dieses Interesse teilst du ja mit John Zorn.

Es ist eher umgekehrt, denn John kannte die schon viel früher als ich. John ist die Hip-Person. Er ist jemand, der sicherlich fünfhundertmal mehr Musik hört als ich. Ein Mensch, den du nur sehr selten ohne Kopfhörer auf den Ohren antriffst. John hört sogar zwei Minuten vor seinem eigenen Auftritt noch Musik. Das erste Mal, als ich ihn in New York getroffen habe, war es japanische Popmusik, später hat er sich dann in Thrash und Hardcore eingehört.

Ich bin da ganz anders, habe lange Perioden, in denen ich gar keine Musik höre. Ich weiß nicht, Musikhören ist für mich manchmal eine sehr fordernde Sache, anstrengend — und ich lasse es dann sein. Was ich hasse, ist Backgroundmusik. Es gibt außerdem eine Menge Musik, die ich, aus den unterschiedlichsten Gründen, nicht hören kann.

Was zum Beispiel?

Eine ganze Menge Klassik. Sagen wir Klassik des 18. und 19. Jahrhunderts — da fällt mir vieles sehr schwer zu hören. Mir scheint vieles sehr oberflächlich oder auch extrem sentimental zu sein. Außerdem habe ich ein ernstes Problem, Belcanto zu hören, was für mich als potentiellen Musikhörer also eine Vielzahl von Opern ausschließt.

Und neben der Klassik?

Ich weiß nicht, alles Romantische. Ich fühle mich dabei immer wie bei einem Bertolucci-Film. Ich bin mir nicht sicher, ob ich den Motivationen wirklich trauen kann.

Du lebst in Brixton, einem Stadtteil von London, der voller Musik ist. Wo du auf den Straßen, an jeder Hausecke mit Musik konfrontiert wirst. Schwarze Musik, Reggae, Hip Hop — die Musik liegt in der Luft. Du kannst das kaum ignorieren. Was denkst du darüber?

Reggae war ganz sicher ein dicker Einfluß auf das, was wir mit „The Work“ machen. Besonders was die Arbeitsweise, die Studioarbeit betrifft — diese ganze Idee des Dub-Mixes. Reggae hat eine Art Revolution im Mixen ausgelöst. Ich erinnere mich an eine TV-Dokumentation über ein jamaikanisches Studio. Die hatten ein Mischpult, das so hoch angebracht war, daß die Leute daran stehend arbeiten konnten, daß sie tanzen konnten, während sie mischten. Wenn ich daran denke, wie wir mit „Henry Cow“ unsere allerersten Demos, damals für Polydor, in einem professionellen Studio aufnahmen. Die Toningenieure waren alles Leute im mittleren Alter, die offensichtlich die typisch institutionalisierte Ausbildung der BBC durchlaufen hatten. Denen wurde dort ein professionelles Bewußtsein vermittelt, daß es nur einen richtigen Weg der Arbeit gibt: „Du bist der Tontechniker, du weißt genau, wie es geht. Du zeigst niemandem anderen (den Musikern), wie es geht, du läßt es auch niemanden anderes machen, du erlaubst niemandem, dein Equipment zu berühren. Denn das ist nicht ihr (der Musiker) Geschäft. Sie sind nur blöde Musiker, dumme Teenager.“ Diese Mentalität wurde denen eingetrichtert. Uns wurde damals nicht einmal erlaubt, den Kontrollraum zu betreten und das aufgenommene Tape noch einmal anzuhören. Das war anscheinend ein Problem.

Es gab Musiker, die das System schon früh durchschaut hatten und kontrollieren wollten. Buddy Holly war zum Beispiel einer, der sich über die Macht der Tontechniker hinwegsetzte. Sicherlich war es in den USA einfacher. Die Leute waren dort vielleicht weniger konservativ. Offensichtlich, wenn du dir zum Beispiel die Howlin'-Wolf-Sessions anhörst, wie die dort gemixt haben. Da war nichts von „die Drums müssen auf dem korrekten Level liegen“. Dort hörst du in einem Song die Drums fast gar nicht, nur ganz leise, und beim anderen Stück sind sie sehr laut. Die Toningenieure hatten nicht diese fixe Idee, daß alles in einer Balance aufgenommen werden muß. Sie experimentierten, und das sollte eigentlich auch der richtige Weg sein: hinhören, „oh das klingt gut“ und fertig. Oft ist das aber leider — auch heute noch — richtiggehend institutionalisiert.