Geschichte entzweit sich

Zu P. Z. Malkins Bericht „Ich jagte Eichmann“  ■ Von Michael Marek

Er wächst als erstes von fünf Kindern im rheinländischen Solingen auf. Die Mutter stirbt, als er zehn Jahre alt ist. Derweil erprobt die deutsche Heeresleitung auf den Schlachtfeldern vor Verdun eine neue Kriegstechnik: den Gaskrieg. Der Vater, von Beruf Buchhalter, achtet im Haushalt vor allem auf Sparsamkeit. Noch Jahrzehnte später wird der Sohn vor Gericht mit unterschwelligem Groll über ihn sprechen. Die Lieblosigkeit und der penible Ordnungssinn seines Vaters scheinen ihm äußerlich nichts anzuhaben. Im Verein Christlicher Junger Männer ist er ebenso Mitglied wie im paramilitärischen Fechtverband der Universität Linz. Als SS- Unterscharführer trägt er die Mitgliedsnummer 45326. Sein engster Jugendfreund ist österreichischer Jude, wie er offen bekennt. In Nazikreisen schätzt man ihn als Fachmann für Judenfragen. Gewissenhaft, mit dem nötigen Maß an Einfallsreichtum und Idealismus erledigt er seinen Aufgabenbereich. Die jüdische Philosophin und politische Publizistin Hannah Arendt schreibt über ihn: „Das Beunruhigende an der Person [...] war doch gerade, daß er war wie viele und daß diese vielen weder pervers noch sadistisch, sondern schrecklich und erschreckend normal waren und sind.“

Am 11. April 1961 eröffnete die Sonderkammer des Bezirksgerichts Jerusalem das Strafverfahren gegen ihn. Adolf Eichmann wurde beschuldigt, für die Ermordung von mehr als fünf Millionen Juden verantwortlich zu sein. Dem Prozeß gegen Eichmann ging ein aufsehenerregender Coup des israelischen Geheimdienstes voraus. Anfang 1960 gelang es einer Eliteeinheit des Mossad, den Organisator der Massenvernichtung in seinem argentinischen Versteck aufzuspüren und nach Israel zu entführen. Dreißig Jahre später gibt nun einer der beteiligten Agenten seine Anonymität preis. In seinem autobiographischen Bericht Ich jagte Eichmann schildert Peter Malkin die spannende Geschichte der Festnahme und ihrer mysteriösen Umstände. Nicht als Huldigung an ein vermeintlich perfekt geplantes Kommandounternehmen des Mossad, sondern als Vexierspiel zwischen Fakten und Interna liest man dieses Buch, das vor dem Hintergrund der Staatsgründung Israels spielt und in dem Malkin einige bislang unbekannte Details der Eichmann-Entführung enthüllt.

Fast fünfzehn Jahre lang hatte der Mossad vergeblich versucht, Eichmann festzunehmen. Seine Verfolger mußten mit einem besonderen Handicap fertigwerden. Obwohl Eichmanns Name einen gewissen Bekanntheitsgrad besaß, kannten ihn nur wenige Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung von Angesicht zu Angesicht. Das war kein Zufall. Schon in der NS-Zeit hatte sich Eichmann geweigert, sich fotografieren zu lassen. „Es gab nur die Aufnahmen, die für offizielle Zwecke erforderlich waren, und selbst dann hatte er über jeden Abzug Buch geführt und dafür gesorgt, daß die Negative vernichtet wurden. Die Ermittler stellten fest, daß es ihm sogar auf Gruppenfotos gelungen war, sein Gesicht im Schatten zu halten, indem er sich hinter größere Männer in die letzte Reihe stellte.“

Der 1929 in Ostpolen geborene Malkin entwirft in seiner Erzählung eine doppelte Chronologie. Er folgt den Etappen der Entführung — von der Observation Eichmanns bis zu seinem geheimen Abtransport in einer El-Al-Maschine nach Israel. Gleichzeitig schildert Malkin die wichtigsten Stationen in Eichmanns Leben. Ein ästhetisches Verfahren, das sicherlich die Dramatisierung der Handlung bewirkt, letztlich jedoch nur den Mythos geschichtlicher Kausalität beschwört. Denn das Böse, so will uns Malkins Logik glauben machen, wird am Ende bestraft, das Leid von Millionen Juden könne entschädigt werden.

Kurz vor Kriegsende taucht Eichmann in Deutschland unter. Mit Hilfe seines Bruders arbeitet er als Holzfäller in der Nähe von Celle und nennt sich Otto Heninger. 1950, im Alter von 44 Jahren, nimmt Eichmann Verbindung zum Naziuntergrund auf. Er bekommt Papiere auf den Namen Ricardo Clement und wird über Österreich nach Genua geschleust, wo ihm ein Franziskanerpater einen Flüchtlingspaß des Vatikans beschafft. Wenige Monate später erreicht Eichmann an Bord eines italienischen Schiffes Buenos Aires. Er arbeitet in verschiedenen Firmen und landet schließlich bei Mercedes- Benz. Fast zehn Jahre lang lebt Eichmann mit seiner Familie unerkannt in einem Vorort der argentinischen Hauptstadt. Als Angehöriger der unteren Mittelschicht, der ausgezeichnet Spanisch spricht und in seinem Schlupfwinkel mit Vorliebe deutsche Musik hört, scheint die Tarnung der kleinbürgerlichen Idylle nahezu perfekt. Und doch gehört es zur Ironie der Geschichte, daß Ricardo Clement, alias Adolf Eichmann, von einem blinden deutschen Juden in Buenos Aires erkannt wird

Malkins Kunstgriff ist ebenso wenig originell wie überzeugend (und stammt wohl eher aus der Feder des Co-Autors und 'Esquire‘-Redakteurs Harry Stein). Er stellt zwei Biographien gegenüber, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten: Adolf Eichmann und den Ich-Erzähler Peter Malkin, dessen Verwandte in Auschwitz ermordet wurden und der als Agent des Mossad einer „neuen“ Generation angehört, der „so etwas niemals widerfahren würde“. Man mag darüber streiten, ob es sich bei derartigen Literarisierungsstrategien um ein angemessenes Mittel der Erkenntnis handelt. Problematisch sind sie allemal, denn Malkin zwingt zur Nachbarschaft, was sich im Grunde ausschließt. Für die Opfer der Shoah ist der rote Faden der Zeit längst zerrissen. Und die Täter flüchten sich in Amnesie. Geschichte entzweit sich, fällt auseinander, in die der Opfer und in die der Täter.

Malkin beschreibt Eichmann als einen konturlosen, ja unterwürfigen Menschen, als bürokratischen Einzelgänger und fürsorglichen Familienvater zugleich. Verzweifelt versucht der Ich-Erzähler in seinen Gesprächen mit Eichmann herauszufinden, was Eichmann über seine Beteiligung am Holocaust denkt. Und so quält sich Malkin 313 Seiten mit der Frage, warum ein durchschnittlicher Mensch wie Eichmann so viel Unheil anrichten konnte.

Wie sagt man: Auschwitz hat stattgefunden? Um Eichmanns Verhalten verstehen zu können, werden häufig zwei Erklärungen herangezogen. Malkin gibt keiner von beiden den Vorzug. Er sieht in Eichmanns Person weder die These von der „Banalität des Bösen“ bestätigt noch das Klischee des verhetzten Naziideologen, dessen Haß sich im blindwütigen Mord entlud.

Am Ende seines Buches erinnert Malkin an das Urteil im Eichmann- Prozeß. „In einem kurzen Weilchen, meine Herren, sehen wir uns ohnehin wieder. Das ist das Los aller Menschen. Gottgläubig war ich im Leben, gottgläubig sterbe ich.“ So unglaublich und zynisch Eichmanns letzte Worte vor seiner Hinrichtung auch klingen, vor ihnen droht unser Denken zu scheitern. Am 11.Dezember 1961 verkündete der Vorsitzende Richter das Urteil: schuldig in allen Anklagepunkten der Verbrechen gegen die Menschheit und das jüdische Volk. Ein halbes Jahr später wurde Eichmann gehängt, seine Leiche verbrannt. Die Asche wurde ins Mittelmeer gestreut — außerhalb der israelischen Hoheitsgewässer. Es sollte kein Grab geben, das die alten und neuen Nazis zu einem Tempel machen konnten.

Peter Z. Malkin, unter Mitarbeit von Harry Stein: Ich jagte Eichmann · Der Bericht des israelischen Geheimagenten, der den Organisator der „Endlösung“ gefangennahm. Aus dem Englischen von Dietlind Kaiser. Piper-Verlag 1991, 313 S., 13 Abb., 39,80 DM