„Wir leben im Deutschland Bismarcks“

Wird sich Kohls Parteivolk nach einem Mißerfolg beim EG-Gipfel enttäuscht von Europa ab- und sich selbst zuwenden?  ■ Von Udo Knapp

Die Geschichte der Bundesrepublik, so der CDU-nahe Historiker Arnulf Bahring, ist zu Ende und geht doch weiter. „Sie ist eine geglückte Synthese aus Bismarcks Reich und Adenauers Rheinbund. Anders gesagt: wir leben noch immer im Deutschland Bismarcks, aber in der weltoffenen, republikanischen Form, die ihm die Ära Adenauer gegeben hat.“ Aber Bismarcks Reich gibt es nicht mehr. Der Osten ist verloren und wird auch durch die Eingliederung der DDR nicht zurückgewonnen. Der historische Bezug in seinem neuen Buch Deutschland, was nun? dient Bahring und seinen Gesprächspartnern dann auch eher zur Relativierung der Geschichte und dem Skizzieren eines Bildes von Deutschland, das sich scheinbar wie von selbst in der Mitte Europas wiederfindet.

Dazu paßt seine Formel von der Flucht vor diesem Deutschland nach Europa, die viele bundesdeutsche Politiker angeblich zelebrieren. „Wir haben lange auf Europa gewartet, sahen in Europa einen Ersatz für unseren gescheiterten, auseinandergesprengten Nationalstaat. Zum geeinten Europa ist es leider nicht gekommen, der deutsche Nationalstaat aber ist auf wundersame Weise zurückgekehrt. Wir müssen beides akzeptieren, uns also auf die neuen, alten Wahrheiten einstellen. Wir müssen unser Schicksal im Rahmen Deutschlands begreifen und gestalten, natürlich in enger Kooperation mit den anderen europäischen Völkern und Staaten, jedoch in fairer Wahrnehmung unserer Interessen.“

Die Bundesrepublik habe „zwar nicht mehr die Macht, die Welt erneut ins Unglück zu stürzen. Aber die Möglichkeit, uns selbst schwer zu schaden, um Selbstbestimmung und Wohlstand zu bringen, ist uns geblieben.“ Die Gefahren kommen für Bahring aus der Tatsache, daß die Bundesrepublik die „wirtschaftliche Verheißung für ganz Osteuropa“ ist. Dabei ist klar, daß „wir Deutschen auf uns ganz allein gestellt, diesen Ländern nicht wirklich Hilfreiches tun können, so daß man nicht ständig erörtern muß, ob wir eigentlich was tun wollen“ oder sollen. Dies ist für Bahring „moralischer Größenwahn“, wo es wichtiger wäre, „so etwas Elementares wie Macht, Machtpolitik wieder für uns zu entdecken“. Wie sonst soll eine Antwort gefunden werden, „wenn die polnische Regierung eines Tages bäte, deutsche Truppen nach Polen zu entsenden, weil sich Polen von anderswoher bedroht fühle?“

Die neue Bundesrepublik habe jetzt, ohne es zu wollen, das erreicht, was Kaiser Wilhelm und Hitler mit Gewalt erreichen wollten, eine Hegemonie, die Spielräume bis weit nach Rußland eröffnet und vor der sich die Westeuropäer fürchten. Zwar spricht die Besinnungslosigkeit, mit der in den letzten zwei Jahren Milliarden in der untergehenden Sowjetunion verschenkt wurden, für seine These. Andererseits überschätzt Bahring den politischen Spielraum der Bundesrepublik erheblich.

Gerade im Jugoslawien-Konflikt hat sich gezeigt, daß keine westeuropäische Macht mehr allein Außenpolitik nach ihrem nationalen Gutdünken machen kann. Selbst wenn es wegen des verlangsamten Tempos der europäischen Einigung zur Renationalisierung vieler Politikelemente kommen würde, wäre der politische Wirkungsraum dafür nur gering. Kohls Europa-Orientierung ist deshalb nicht Flucht vor Deutschland, sondern eher umgekehrt die konservativ-pragmatische Einsicht, daß eine Sicherung der Interessen der Bundesrepublik nur über eine vertiefte europäische Einigung funktionieren kann.

Dieser Prozeß ist sicher mit dem gewachsenen Gewicht der Bundesrepublik schwieriger geworden. Aber warum soll er gerade jetzt scheitern, wie Kohl es für den Fall prophezeit, daß es beim EG-Gipfel nicht zu einer Einigung kommt? Würde sich Kohls Parteivolk nach einem Mißerfolg in Maastricht enttäuscht von Europa ab- und sich selbst wieder verstärkt zuwenden? Bahring jedenfalls hält eine Fortsetzung des Urlaubs von der Weltgeschichte, wie ihn sich viele in der Bundesrepublik noch wünschen mögen, nicht mehr für möglich. Eine neue deutsche Außenpolitik müsse statt dessen die Mittellage der Deutschen, die schon Bismarck, Kaiser Wilhelm, Stresemann, Hitler und Adenauer im Auge hatten, wieder bedenken.

Zuzustimmen ist Bahring beim Versuch, deutsche Interessen zu formulieren, anstatt moralischen Bekenntnissen zu folgen. Die Ausgestaltung sollte jedoch nicht ihm überlassen bleiben. Denn nach Ansicht des konservativen Historikers gehört dazu die Erneuerung des Bündnisses mit den USA, verbunden mit dem Anspruch, die deutsche Führungsmacht bei der Formulierung einer demokratischen Friedenspolitik des Westens zu werden. Deutschen Interessen könnte es entsprechen, zuerst feste Beziehungen zu den Ländern Mittelosteuropas herzustellen, anstatt sich an einem Wiederaufbau der auseinandergefallenen Sowjetunion zu überheben. Deutschen Interessen könnte es auch entsprechen, wegen der hohen Verletzlichkeit der Bundesrepublik, über eigene Atomwaffen nachzudenken, weil „England und Frankreich bisher nicht geneigt sind, ihre Atomwaffen europäisch zu definieren“.

Bahrings Vorstellungen enthalten viele noch unsystematische Tabubrüche und eine resigniert-verherrlichende Faszination für „Deutsches“. Seine Position markiert jedoch einen Eckpfeiler zukünftiger Debatten um die deutsche Außenpolitik. An zentralen Begriffen wie „Verantwortung“, „innere Einheit“ und „Europa der Vaterländer“ hinterfragt er eingefahrene Positionen, und schemenhaft entsteht dabei ein Bild von der Bundesrepublik als neuem deutschen Nationalstaat, von dem mit Sicherheit bald viele Politiker in der CDU und SPD sprechen werden.