Stabicus sanctus

■ Die Staatsbibliothek als weltliches Kloster humanistischer Prägung: Das Rad der Weisheit dreht sich unermüdlich weiter

Natürlich eine alte Handschrift. Zur neunten Stunde. Während ich mich in dunkler, herbstlicher Morgenstunde durch die majestätisch schwingenden Drehtüren der Stabi winde, vorbei an den soldatisch aufgereihten Gaderobenschränken durch das neusachliche Foyer eile, ist mir jeden Tag aufs neue, als sei dies der Eintritt in eine andere Welt.

Zwangsläufig werde ich Teil einer frommen Gemeinschaft humanistischer Prägung. Am Drehkreuz verschafft mir das Losungswort Zutritt: »Zwei private, ein fremdes, bitte«. Ich werde einer von ihnen. Gehe nicht mehr, sondern schreite über den warmen, moosfarbenen Boden. Erklimme die steilen Stufen auf dem Weg zu höheren Weihen, vorbei am Taufbecken der Erkenntnis, das sie hier den Alten alphabetischen Katalog nennen. Die von robusten Pfeilern gestützten Decken überspannen einen hellen, von herrlichem Licht durchfluteten Saal.

An der Westseite öffnen mächtige Fenster den Blick auf das ferne Treiben in Straßen und Gassen. Von oben dringt das gebündelte Licht durch die kreisrunden Kuppeln. Ganz Claritas, ganz lichtes Geistesprinzip aller Schönheit und Weisheit. In den Gängen eilen geschäftig-wichtig aussehende Gestalten an mächtigen Regalen vorbei. Mit Büchern und feinseidenen Taschen bepackt, suchen sie raschen Schrittes ihre schmalen Pulte. Voller Hingabe an das Studium der Wissenschaft breiten sie ihr Tagwerk aus und versinken in den Libri liberali.

Studiosi

Im Ostflügel dieser fried- und freudvollen Kathedrale papyrener Weisheit walten die kunstfertigen Kopisten der Heiligen Schrift. Die armen Studiosi philosophiae haben sich in den hellsten Winkel des Südwestens zurückgezogen und translatieren Aristoteles und Seneca. Zu ihrer Linken beherrscht der Sonderlesebereich das Zentrum der buchkundlichen Basilika.

Hier, im abgesonderten Chorgestühl, verrichten die Strebsamsten unter den Strebsamen ihre rituellen Handlungen. In alten Pergamenten studieren sie die Weisheiten aller Länder und vergangener Zeiten. Über ihren gebeugten Rücken schwebt majestätisch die Weltkugel des Atlas. Und noch tiefer im Süden ist das ferne Reich der Gläubigen Buddhas. Stille und Strebsamkeit liegt über dem Handschriftensaal.

Zur Vesper drängen die Weisen und Fleißigen ins Refektorium im Osten. Da steigen die Advocati diaboli die gewundenen Stufen der Empore herab, blasse Doktoranden verriegeln drunten die heiligen Räume der Krypta, und auch die Epigonen des Pythagoras verlassen die über allem schwebenden Triphorien, die kaum zugänglichen Galerien der Naturwissenschaften.

Wer zu dieser späten Stunde noch die sakralen Hallen aufsucht, dem bleiben die Pulte verschlossen. Zumeist sind es Fremde und Neulinge, die sich am Beichtstuhl der Bibliographischen Auskunft ihrer buchkundlichen Sorgen entledigen. Hier wie überall herrscht jener leise Ton der Ehrfurcht und Zurückhaltung, wird flüsternd über Absolution verhandelt und hernach in Stille gedankt.

Vade! Lege!

Ora et labora. Im strengen Rhythmus klösterlicher Gelehrsamkeit vergeht der Tag wie im Fluge. Die Sonne neigt ihr Haupt schon weit in den Westen, da werden vereinzelt jene kleinen Lichter entzündet, die den Raum in adventliches Hell-Dunkel tauchen.

Tief in der Nacht, nach abendlichen Mahl und der gemeinsamen Komplet begibt sich dann ein jeder, aufgezehrt von den Mühen des Tages, allein in seine karge Kemenate. So verlassen wir in dunkelster Stunde, die Gesichter in wärmenden Kapuzen geborgen, schweren Herzens die Stille des Ortes. Bis die Glocken einen neuen Tag einleuten und sich das Rad der Offenbarung kaum merklich weiterdreht. Vade et lege, amicus. — Geh und lies. In Stabi veritas. Gumberto Geco