Erich Loest

■ Vorbemerkung zum Bilke-Bericht

Als ich im Herbst 1964 aus dem Zuchthaus Bautzen nach Leipzig zurückkehrte, hatten meine Frau und ich natürlich wochenlang zu erzählen, was in den vergangenen sieben Jahren geschehen war. Irgendwann kam sie darauf, daß im Herbst 1959 ein junger Mann bei ihr gewesen war, aus dem klug zu werden schwerfiel: Er käme aus dem Westen, hatte er gesagt, besuche eine Tante ein paar Häuser weiter, interessiere sich für meine Bücher, ob er wohl das eine oder das andere ausleihen dürfe? Das war brockenweise herausgekommen mit langen Pausen. „Ich wurde nicht schlau aus ihm“, sagte meine Frau. „Natürlich fürchtete ich, er sei ein Spitzel. Wie es dir ginge, hat er gefragt, und ich habe karge Auskunft gegeben. Einmal im Vierteljahr dürfe ich dich besuchen, und zwanzig Zeilen zu schreiben sei im Monat gestattet, und vor allem seist du magenkrank.“ Ja, der Staatsanwalt hatte gerade wieder ein Gesuch abgelehnt, daß ich im Knast schreiben dürfte.

Dann Aufregung, zwei Jahre später, nach dem Mauerbau in Berlin: Eines Vormittags, meine Frau war zur Arbeit, klingelte der junge Mann. Eine Untermieterin öffnete — Frau Loest käme erst in zwei Stunden zurück. Ob er nicht in der Wohnung warten dürfe? Die Untermieterin mußte selbst fort — sie könne ihn, den Unbekannten, doch nicht allein in der Wohnung lassen. Der junge Mann, sagte die Untermieterin am Abend, sei traurig und verwirrt gewesen. Danach war Jörg Bernhard Bilke zum Karl-Marx-Platz gegangen, wo sein Motorrad stand. Dort hat ihn die Stasi verhaftet.

Für meine Frau hatte das ein Nachspiel: Sie wurde zur Stasi bestellt. Das war ein nervenaufreibender Gang, denn sie hatte schon einmal fünf Monate lang dort in Untersuchungshaft gesessen. Wann und wie lange dieser Bilke bei ihr gewesen sei und was er gewollt hätte, wurde sie gefragt. Sie gab Auskunft über die Bücher und einige Brocken der Unterhaltung, viel war es nicht und belastend aus ihrer Sicht auch nicht. Das Protokoll wurde angefertigt, sie unterschrieb. Dann legte ihr der Vernehmer nahe, sich bei weiteren Besuchen aus dem Westen, deren Grund nicht klar wäre, vertrauensvoll an die Staatsorgane zu wenden. „Wir sind immer für Sie da“, fügte er an. Und: „Wir hatten den Mann schon lange im Visier. Frau Loest, seien Sie froh, daß wir ihn nicht in Ihrer Wohnung verhaften mußten.“ Da hatte, sagte meine Frau, Drohung mitgeklungen: „Vielleicht hätten wir Sie dann auch ein wenig eingesperrt.“

Es war im November 1977, ich durfte, noch in Leipzig wohnend, zu Lesungen für ein paar Tage nach dem Westen. In Osnabrück trafen wir uns und redeten eine halbe Nacht lang über die Geschehnisse und Umstände von damals. „Du bist also dieser Unglücksrabe“, sagte ich. Dann kehrte ich zurück, und vier Jahre lang versorgte mich Bilke mit Zeitungsausschnitten, die mich betrafen oder mich interessieren könnten. Das und die Telefongespräche, die wir führten, wurden von der Stasi und ihren Helfern bei der Post säuberlich registriert, der „negativ- feindliche Schriftsteller Autor II“, das war ich, füllte seine Akte durch seine Verbindungen zum „feindlichen BRD-Journalisten Bilke“ erheblich.

Jetzt sehen wir uns in Bonn, wir fuhren zuammen nach Leipzig. Es gibt über die neuen Zeiten zu reden und über die alten auch.

Vgl. auch 'e.i.‘ 76: Auszug aus Loests „Die Stasi war mein Eckermann oder: Mein Leben mit der Wanze“. Steidl Linden, Göttingen, Leipzig 1991. Loest (1926) stammt aus Leipzig und war lange Jahre im MfS-Knast.