Der Schlußstrich basiert nicht auf demokratischen Tugenden

■ Während die ehemaligen Volksrepubliken Osteuropas auf ihre Kader nicht verzichten können, ist in Deutschland jeder Ostler leicht ersetzbar

In Ungarn erklärte man die Akten der untergegangenen Staatssicherheit zur Geheimsache, in Polen und in der Tschechoslowakei ebenso. In Deutschland dagegen öffnet man die Archive der Stasi großzügig: Ab heute können alle Opfer, also die sogenannten „Betroffenen“, die sie betreffenden Daten und Berichte einsehen, Auskunft darüber erhalten, wer sie bespitzelte, ihre Privatspäre verletzte, ihren beruflichen Werdegang hemmte oder förderte. Es gibt keinen schnellen „Schlußstrich“. Aber in zwei, drei, höchstens vier Jahren werden alle wichtigeren Stasi-Spitzel enttarnt sein; sie werden sich entschuldigt oder gerechtfertigt, ihre beruflichen Ämter verloren oder behalten haben.

Die Bespitzelten werden die Spitzel mit Schweigen übergehen oder zur Rede stellen, sie werden sie öffentlich anprangern oder ihr Wissen für sich behalten. Sie werden die haupt- und nebenamtlichen Kundschafter des alten Systems, die mediokren Karrieristen und Vertrauensbrecher mit Verachtung strafen oder ihnen verzeihen. Viele der Opfer werden nach der Lektüre ihrer Akten die Lesesäle der Gauck-Behörde nicht als Helden verlassen, sondern leicht beschämt und geduckt — sie werden Dinge über und von sich selbst gelesen haben, an die sie sich so genau nicht mehr erinnern wollten, die ihnen ein gnädig funktionierendes menschliches Gedächtnis längst verdrängt oder zurechtgeschönt hatte.

Rache, Pogrome, Lynch- und Selbstjustiz sind nicht zu erwarten. Und am Ende wird in Deutschland sehr viel schneller einigermaßen reiner Tisch gemacht sein als in den östlichen Nachbarstaaten. Dort wird man sich noch Jahre und Jahrzehnte mit der Vergangenheit einzelner Personen, ganzer institutioneller Eliten abquälen, zähe und doch halbherzige Kämpfe um die Öffnung der Geheimdienst-Archive führen, von einem Skandal in den nächsten schlittern. Schlußstriche werden gezogen, die keine sind...

Fast könnte man meinen, die Deutschen hätten aus ihrer unbewältigten, nicht vergehenden (Nazi-)Vergangenheit gründlich gelernt, seien gar „politisch reifer“ als die Polen oder Tschechen. Ein schwerer Irrtum: Es sind weder tiefsitzende demokratische Tugenden noch Empathie für die Opfer, die den Deutschen den Schritt zu ihrem wirklich bemerkenswerten Stasi-Akten- Gesetz leicht machten.

Orientierung an Opfern ist rechtspolitischer Fortschritt

Geheimdienstlich und als Zuträger interessant waren auch in der DDR weder der sprichwörtliche kleine Mann noch die berühmten Arbeiter und Bauern. Vielmehr waren es die Lehrer und Juristen, die Professoren, Schriftsteller und leitenden Staatskader — also die staatlichen und gesellschaftlichen Eliten. Und darin unterscheidet sich die deutsche von der ungarischen Situation eben gründlich: Unsere östlichen Nachbarn brauchen zumindest Teile ihrer alten Eliten, die Bundesrepublik aber braucht die Eliten der ehemaligen DDR überhaupt nicht. Jeder Ostdeutsche ist schnell ersetzbar. Weder dem Rektor einer bedeutenden Universität noch dem stellvertretenden Vorsitzenden einer großen Partei oder dem Ministerpräsidenten eines Bundeslandes müssen besondere Tränen nachgeweint werden — die Herrschaften sind im Handumdrehen ersetzt. Sie waren nicht deshalb im Amt, weil sie zwingend gebraucht worden wären. Sie amtierten zur Verschönerung der politischen Optik. Wenn sich diese Funktionäre als belastet erweisen, ihren Hut nehmen müssen, entsteht Spielraum; der Ersatzmann aus der alten Bundesrepublik ist schon warmgelaufen — im allgemeinen ist er ohnehin belastbarer, flexibler als sein Kollege aus dem Osten.

Hier und nirgends sonst liegt der zentrale — materielle — Unterschied zwischen der ehemaligen DDR und den anderen inzwischen demokratisierten Volksrepubliken. Und historisch gesehen, auf die Zäsuren der deutschen Geschichte bezogen, unterscheiden sich die Situationen von 1945 und 1990 ebenfalls genau an diesem Punkt: Adenauer brauchte seinen Globke; die Geheimdienste, Schulen und Gerichte mußten mit der Nazi-Elite von gestern aufgebaut werden, und wo dies, wie in der späteren DDR, nicht geschah, müssen die eklatanten Mißerfolge heute bezahlt werden. Der selbstverordnete Verzicht auf die alten — belasteten und diskreditierten — Eliten führte in den monströsen Mißerfolg eines kollektiv beschrittenen zweiten Bildungsweges.

So gesehen war es völlig selbstverständlich, daß sich die Strategien zur Bewältigung der NS-Zeit in der Bundesrepublik am Schutz der Täter ausrichteten, die Opfer als Querulanten, Nestbeschmutzer, Rentenneurotiker und Kryptokommunisten denunziert wurden. Vor der prägenden Kraft dieses Hintergrunds ist es aber eben doch ein großer rechtspolitischer Fortschritt, wenn heute die Interessen der Opfer im Mittelpunkt stehen und die Täter weitgehend rechtlos gestellt werden. Erst wenn diese neue Logik des Stasi-Akten- Gesetzes mehr wird als nur eine einfache Technik zur schnellen Abwicklung der alten DDR, erst dann hat sich die Demokratie in der Bundesrepublik insgesamt entwickelt. Götz Aly