Unterwelt der Dramaturgie

■ Bruno Hitz' Essay zum deutschen Drama nach Brecht

Wer in den letzten Jahren Aufführungen des Hamburger Schauspielhauses sah, wunderte sich ziemlich regelmäßig darüber, daß das Theater noch immer Dramaturgen beschäftigt: Zumindest in den effektgeil bewußtlosen Inszenierungen des Intendanten Bogdanov war von einem analytischen Blick auf die Stücke und einer Reflektion der szenischen Mittel ihrer Umsetzung nichts zu sehen.

Bruno Hitz, bis vor einem Jahr einer der unglücklichen Dramaturgen an diesem Haus, nutzte die freie Zeit, um sich der Lieblingsbeschäftigung unausgelasteter Eggheads zu widmen: Er schrieb ein kluges Buch.

Der Anspruch seines Essays ist so unbescheiden wie seine Fragestellung zunächst flächendeckend allgemein scheint: Er will die Veränderungen in der deutschen Dramatik der letzten drei Jahrzehnte, „die mehr als nur Kräuselungen der Oberfläche waren“, benennen. Der Gefahr, sich in Allgemeinplätzen zu verlieren, begegnet Hitz mit der Konzentration auf die Formsemantik dreier exemplarischer Dramen, dabei wohl der Einsicht Adornos folgend, nach der der eigentlich gesellschaftliche Gehalt eines Kunstwerks an seiner Form ablesbar sei.

Das analytische Raster liefert ihm eine Abschweifung in die Philosophiegeschichte. Auf einem Dutzend Seiten paraphrasiert Hitz einige zentrale Gedanken aus Kant, Nietzsche und Wittgenstein zur Erkenntnistheorie, um am Ende durch die Unterscheidung zwischen deduktivem und induktivem Modell der Welterklärung ein griffiges Sezierbesteck zur Zerlegung der Dramen parat zu haben. Dieses Instrumentarium wird ergänzt durch zwei zentrale Formkategorien, die seit Aristoteles das Nachdenken über das Drama strukturieren: Stückfigur und Fabel, deren Verhältnis zueinander Hitz im Rückgriff auf J.M.R. Lenz kurz referiert. Lenz hat das Primat der Fabel aufgehoben und damit ein Grundmuster des modernen Dramas geliefert, hinter das der in diesem Punkt traditionellere Brecht zurückfällt.

Philosophie- und Literaturgeschichte parallelisiert Hitz: Deduktion und Fabelprimat einerseits, Induktion und relative Autonomie der Figuren, des Einzelelements andrerseits. Der Bezug auf diese traditionellen Formkategorien verweist auf die Grenze von Hitz' Interesse: Er untersucht eine bestimmte Entwicklungslinie im deutschen Drama, neuere Theaterformen, die Theater nicht primär als Mimesis von Handlung begreifen, sind mit seinen Kategorien nicht mehr faßbar (etwa das Theater Robert Wilsons, Pina Bauschs, Frank Castorfs, Einar Schleefs).

Was Hitz zu den Dramen (Dürrenmatts Physiker, Heiner Müllers Leben Grundlings und Thomas Hürlimanns Großvater und Halbbruder) zu sagen hat, ist weder besonders neu noch besonders originell. Interessant wird seine Lektüre durch den Zusammenhang, der sich zwischen den Dramen herstellt: Indem Hitz Dürrenmatt, der die Figuren zu reinen Funktionen der möglichst durchsichtigen Fabel reduziert, neben Müller stellt, der die Geschlossenheit der Fabel wie der Figuren zerstört und auf beiden Ebenen nur noch mit Fragmentmontagen, „Abbreviaturen, Produkten des Zerbrechens, Frakturen“ arbeitet, zeigt er, wie in den beiden Jahrzehnten, die die Stücke trennen, nicht nur bestimmte Bauformen des Dramas (besonders die Parabel), sondern auch deren außerästhetische Voraussetzung, die „totalisierenden Weltbilder“, obsolet werden. Wieder einmal das „Ende der Ideologien“ oder den Zerfall geschlossener Weltbilder festzustellen ist banal, spannend wird es, wenn man die Spuren, die diese Bewegung an der Form der Kunstwerke hinterlassen hat, untersucht. Genau das betreibt Hitz. Diese Analyse von drei exemplarischen Stücken macht seinen Essay zu einer anregenden Lektüre. Peter Laudenbach

Bruno Hitz, Der Streit der Dramaturgien , Ammann Verlag Zürich, 82 Seiten, 20 Mark.