Blutrot durchkreuzt

Heute startet „Boyz 'n The Hood“ in Deutschland. Eine Reportage über die Gangs in der Nachbarschaft von South Central Los Angeles, wo der Film spielt.  ■ Von Rolf Paasch

I.

South Central Los Angeles an einem ganz gewöhnlichen Dienstag abend. Sergeant Nick Titiriga und seine Gang-Einheit machen sich auf ins Revier. Langsam rollen die schweren Chevrolets und Crown Victorias mit ihren Bordcomputern aus der Polizeiwache an der 77. Straße. CRASH (Community Ressources against Street Hoodlums) heißt die Sondereinheit zur Bekämpfung der Jugendgangs. Bald versteht man, wie das gemeint ist. Sie sind gut gelaunt und aggressiv. Zehn Cops, drei Schwarze, drei Hispanos, der Rest weiß wie Titiriga, dessen Vater aus Rumänien nach Amerika gekommen ist. Alle in ihren frühen Zwanzigern und scharf wie junge Bluthunde. Der Sergeant hat das gerne so, „manchmal muß ich die zurückhalten“, sagt er stolz.

„Was machen wir heute“, fragt Titiriga seine Mannschaft über Funk. Die „8-Trays“ (Dreiundachtziger) sollen heute etwas gegen die „Rolling Nineties“ vorhaben, hat Lieutenant McMahon gehört, der für den Abend die Planung übernommen hat. „Nehmen wir uns mal deren Treffpunkt an der 94. Straße vor. Die ersten zwei Wagen von vorne, der Rest von hinten. Los geht's!“

Mit 100 Sachen den Western Boulevard herunter, schleudern die Achtzylinder bald in einen unbeleuchteten Weg zwischen eng hintereinandergereihten Holzhäusern. Ein Siedlungsmuster wie in Soweto. Aufgescheucht von den quietschenden Reifen rennt eine Gruppe schwarzer Jugendlicher davon — und direkt ins Scheinwerferlicht der entgegenkommenden Polizeifahrzeuge. „Halt stehenbleiben!“ Die Waffen im Anschlag, werfen die Cops ihren Fang bäuchlings auf die langen Motorhauben. Hände auf den Rücken, die Handschellen schnappen zu, der Rest ist reine Routine.

Waffen, Dope? „Heute mal nicht“, scherzt Ice, der eine dünne blaue Regenjacke über der nackten Haut trägt. Auf dem Rücken ein weißer Totenkopf. Vorstrafen? Mit seiner Handspanne mißt Sergeant Titiriga den beeindruckenden Bizeps des Festgenommenen. „Mindestens zwei Jahre Bundesknast hast du für das Training gebraucht“, sagt er anerkennend. „Gut geschätzt Sergeant! Aber noch mal bekommt ihr mich da nicht rein.“

Einer der Cops leuchtet die mit Graffiti beschmierte Häuserwand ab. „Die blutrot durchkreuzte Zahl 83 inmitten der wilden Wandmalereien zeigt an, daß sich die 8-Trays bis hierauf ins feindliche Territorium vorgewagt hatten.“ „Das werden die noch bereuen“, meldet sich Ice von seiner Motorhaube zurück.

Warum diese Gangfights, frage ich ihn. „Ist 'ne heiße Nachbarschaft hier, im Westen die ,Bloods‘, im Süden die ,8-Trays‘ und auch noch die ,Sixties‘. Du mußt die erwischen, ehe sie dich kriegen, anders geht's hier nicht. Ice hatte ein Mädchen drunten in der 60er Gegend. Das haben die ihm nicht verziehen. Zweimal wurde auf sein Auto gefeuert. Die wußten halt aus dem Knast, daß er ein ,Crip‘ war. Dem Gangbanging kannst Du hier nicht entgehen. Da mußt Du schon aus South-Central wegziehen, nach Bel Air zu Ronald Reagan“, sagt Ice und lacht.

Die Szene hat sich mittlerweile gewandelt, ja beinahe entspannt. Aus den flachen Holzhäusern haben sich einige Girls herausgewagt und tanzen zur im Hintergrund dröhnenden Rapmusik. „Put the spotlight on me“, singt eine von ihnen herausfordernd. Die Cops richten willig ihre Taschenlampen auf das Dekolleté ihrer Bluse. Zwei Fünfjährige springen munter auf einem danebenstehenden BMW herum und reißen an den Scheibenwischern. Nachbarn stehen diskutierend im Lichtkegel der quergestellten Polizeifahrzeuge. Die Episode, die wie in einem Bürgerkrieg begann, endet wie ein Straßenfest. Die Handschellen abgenommen, bedankt sich Ice bei den Cops für die anständige Behandlung. Seine drei Freunde stehen verlegen in der Gegend herum.

Was machen sie jetzt? „Heute abend, meinst Du, oder überhaupt?“ Auf beides wissen sie keine Antwort zu geben. Nur blanke, fragende Gesichter. Ob sie den Film Boyz 'n The Hood gesehen haben? „Klar, Mann, war cool der Film. Genau so ist unser Leben.“

II.

Boyz 'n The Hood (Die Jungs in ihrer Nachbarschaft) erzählt die Lebensgeschichte von drei schwarzen Teenagern im Südwesten von Los Angeles. Der Film des 23jährigen schwarzen Regisseurs John Singleton handelt vom Erwachsenwerden ohne Jugend. Von Doughboy (gespielt vom Rap-Singer Ice Cube), der mit 17 schon ein paarmal im Knast war. Von seinem Bruder Ricky, der die Erziehung seines Babies lieber der Freundin überläßt und draußen auf der Straße herumhängt. Und von Tre, dessen streng-autoritärer Vater Furious Styles ihm den Weg aus dem Ghetto weist: keine Drogen, Kondome, Schulbesuch, schwarzer Nationalismus und persönliche Verantwortlichkeit. Doch wer in South Central hat schon so einen Vater?

All dies spielt in den sich wie Planquadrate ausbreitenden Vororten von South Central Los Angeles, wo kleine Vorgärten respektable Bürgerlichkeit vortäuschen; wo ruhige und palmenbestandene Seitenstraßen tagsüber unter der dunstigen Sonne Süd-Kaliforniens kaum Drogen und Gewalt vermuten lassen. Doch nachts kreisen hier die Polizeihubschrauber über dem Viertel, heult das CRASH-Team von Sergeant Titiriga durch die Straßen. Immer wieder werden Tre und seine Freundin von Schüssen aus dem Schlaf geweckt.

Als es irgendwann Tres besten Freund erwischt, scheint auch er sich dem Kreislauf der Gewalt nicht mehr entziehen zu können. Doch ehe seine Freunde aus der Gang zur Vergeltung schreiten, steigt Tre in letzter Minute aus: Die tödliche Rache überläßt er den anderen.

Für Regisseur Singleton und den europäischen Kinobesucher mag Aussteiger Tre der unumstrittene Held des Filmes sein — aber selbst diese in Boyz 'n The Hood immer wieder dick aufgetragene Message verfehlt ihr Publikum in den schwarzen Innenstädten. Nicht Tres mutiger Absprung, sondern das „Drive by Shooting“ seiner Freunde auf dem neonbeleuchteten Parkplatz eines Hamburger-Restaurants war in vielen amerikanischen Kinos die meistbeklatschte Szene des Films.

III.

Die CRASH-Einheit gleitet weiter durch South Central L.A. Zwanzig statt der zehn Leute könnte Sergeant Titiriga für seine allabendliche Patrouille gebrauchen. Lösungen des Gangproblems hat er nicht anzubieten. Er hat da einige Ideen, aber die sind alle illegal. Zum Beispiel das Verbot der Gang-Mitgliedschaft, das wäre verfassungswidrig. Die Verbrechensbekämpfung scheitert seiner Ansicht nach in den Gerichten. Da gibt es keine Furcht mehr vor dem Gesetz. „Ich muß die fünfmal mit Dope oder Waffen festnehmen, ehe sie überhaupt in den Knast kommen.“

130 Morde gab es bis Ende Oktober in seinem Revier, davon rund achtzig Prozent in den Kämpfen der zwölf hier vertretenen Gangs untereinander. Die meisten von ihnen sind schwarz und haben das Drogengeschäft unter sich aufgeteilt. Die hispanischen Gangs operieren dagegen noch wie die „Crips“ und „Bloods“ zu ihren Anfangszeiten in den siebziger Jahren: als Macho-Vereinigungen zur Verteidigung des eigenen Territoriums. Die Bevölkerung hier ist zu 45Prozent schwarz, zu 45Prozent hispanisch, fünf Prozent sind Asiaten und fünf Prozent weiß.

Vor uns fährt ein rot-silbriger Pick-Up-Truck mit sechs Jugendlichen. Lieutenant McMahon findet das Nummernschild in der Gang- Kartei des Bordcomputers. Über Funk geht das Signal an die anderen CRASH-Mitglieder. Bald knien die sechs nebeneinander mit Handschellen auf dem Bordstein. Darunter alte Bekannte aus dem polizeilichen Fotoalbum von Mitgliedern der „5VANNESS4“-Gang. Zum Beispiel „Fat Guy“ mit seinen fünf Schußwunden und „Big Finger“ mit seinem steifen Finger aus einer Messerstecherei. Auch der kleine, nach Mariuhana riechende Philipino ist als Drogenkurier polizeibekannt. „Und wie heißt Du Dicker?“ fragt Wachtmeister McMahon den nächsten. „Wir nennen dich einfach Michelin Man.“ Alle lachen sie, die Cops, die Spaß an seiner Erniedrigung haben und seine Freunde, vor lauter Verlegenheit. Dem vielleicht 14jährigen Jungen stehen die Tränen in den Augen. „Stell Dich dort vor die Palme!“ Ein Blitzlicht — und der Polaroidabzug seines Konterfeis wandert ebenfalls ins Polizeialbum.

In dem Wagen finden sich ein zweiter Satz Nummernschilder und eine Reihe schwarzer Kapuzenmützen, Indizien für ein geplantes „Drive by Shooting“, einen Revanchemord aus dem fahrenden Auto. „Vielleicht“, so wendet sich McMahon an den „Michelin Man“, „erkennt dich ja nach eurer nächsten Aktion ein Zeuge in unserem Fotoalbum wieder.“

Ein Gespräch mit den Jungens ist unmöglich. Nicht, daß sie nicht wollten. Sie wissen nichts zu sagen. Weder zu ihren Familien noch zu ihrer Zukunft. Nur einsilbige Antworten, Sätze mit dem restringierten Code der Straße. Ungläubiges Staunen auf die Frage, was sie denn einmal werden wollen. In welchem Leben? So als wäre ihnen schon die Vorstellung, überhaupt noch Träume haben zu können, abhanden gekommen.

Keiner der Jungen ist älter als 15. Sie alle waren bereits in kalifornischen Verwahranstalten, wie Doughboy aus Boyz 'n The Hood. Sie alle haben bereits enge Freunde verloren, wie John Singletons Held Tre. Was sie denn von der Botschaft des Films halten? „Da war keine Botschaft, Mann, das war bullshit“, gibt einer von ihnen zurück. „Hast doch keine Ahnung, Kleiner“, faucht ihn Lieutenant McMahon an. „Das war der beste schwarze Film aller Zeiten. Ihr seid nur zu blöd, das zu kapieren.“

Über den Polizeifunk kommt ein Notruf. Ein Straßenraub auf dem Western Boulevard. Das Opfer ist durch Messerstiche schwer verletzt. Die Beschreibung einer Zeugin trifft auf IceT und seine Jungs von den „Rolling Nineties“ zu. „Scheiße“, flucht Sergeant Titiriga, „ich wußte, daß die heute abend noch was vorhatten.“

IV.

South Central L.A. am Mittwoch morgen. Bobby sitzt in dem umgebauten Fabrikgebäude der „Community Gang Youth Services“ an der 63. Straße hinter seinem Schreibtisch und erklärt, wie er mit den übrigen hundert Mitarbeitern dieser selbstorganisierten Sozialfürsorge die Kids aus den Gangs fernzuhalten versucht.

Bobby ist 38 Jahre, ein sogenannter O.G., ein „alter Gangster“ aus längst vergangenen Bandentagen. Er war dabei, als 1969 in South Central L.A. die ersten schwarzen Jugendgangs gegründet wurden. Damals hatte die schwarze Widerstandsbewegung der „Black Panther“ „den Blues“, wie Bobby es ausdrückt, gab's auf den Straßen 'ne Menge verwirrter Kids. „Ja, Mann“, sagt er mit reuigem Stolz, „ich hab mit dieser Scheiße angefangen.“ Heute wird die Zahl der Gang-Mitglieder in Los Angeles auf über Hunderttausend geschätzt.

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Doch was 1970 noch ansatzweise politisch war, ist heute nur noch (Drogen-)Business oder sinnlose Gewalt. Und die Gangs werden immer jünger. „Du mußt die heute in der Schule mit zwölf noch erwischen, sonst sind sie verloren“, weiß Bobby aus seinen Kontakten mit den Kids. Dabei hat er als O.G., als einer der versteht, wie das Leben in den Gangs ist, bei den Jungs in der Nachbarschaft noch einen gewissen Respekt. Jedenfalls mehr als alle anderen, ob Cops oder Sozialarbeiter.

Seine Kollegin Nadia geht als eine Art „große Schwester“ in die Schulen zu den Mädchen. Auch die schließen sich immer häufiger zu Gangs zusammen. „Die Girls wissen nicht, was sie tun oder was mit ihnen geschieht“, sagt Nadia. „Die sind schon voll auf Aids, Zehnjährige mit Gonorrhoe-Warzen. Dabei hätten die einen solchen Einfluß auf die Jungs, wenn sie nur wüßten, wie.“

Die Leute von der Gang-Betreuung waren auch dabei, als im Juli in South Central L.A. die Filmpremiere von Boyz 'n The Hood vorbereitet wurde. Während es andernorts vor den Kinos zu Schießereien kam, blieb hier — am Drehort und Wohnort des Regisseurs — alles ruhig. Bobby kritisiert zwar, daß der Film nicht ausgewogen war, zwischen den „Crips“ in ihrem blauen Cabriolet und den „Bloods“ in ihrem roten Sportwagen. Aber sonst war es für ihn eine längst überfällige Dokumentation des Lebens in dieser Nachbarschaft. Und auch die Botschaft, hofft Bobby, sei bei den Kids im Kino angekommen. Und sei's nur deswegen, weil Gangmitglieder der Crips und der Bloods selbst friedlich zur Premiere erschienen waren. Auf Einladung von 0.G.s wie Bobby.

V.

Ein anderer „old gangster“, Sam T. Williams, betreut die aussteigewilligen Gangmitglieder der nächsten Generation. Jungs wie Johnny, der jetzt, wo er Vater geworden ist, plötzlich seine Verantwortung entdeckt hat. Oder Edward, der es nach seinem vierten Knastaufenthalt mit 18 leid war, draußen als „wandelnde Zielscheibe“ herumzulaufen. Wie insgesamt 44 Ex-„Crips“ oder „Bloods“ bessern sie im Rahmen einer öffentlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahme jetzt Straßen aus, pflanzen Bäume und bereinigen die Schandflecken der Nachbarschaft.

Fast immer war die Vaterschaft Anstoß zum Absprungversuch, und fast immer steht am Ende der Traum, aus dieser fatalen „Neighborhood“ fortzuziehen. „Solange du in South Central L.A. bist“, erzählt Johnny in der Mittagspause auf seine Schaufel geschützt, „holt dich deine Vergangenheit immer wieder ein.“ Um dies zu verhindern, hat seine Arbeitskolonne vorgesorgt. Während sie in einer der Nebenstraßen des Western Boulevard einen Bürgersteig neu pflastern, schieben auf beiden Seiten des Teams zwei Leute Wache. Für den Fall, daß sich die Gang an ihren Ex-Mitgliedern rächen will. Auf die Frage, wo er denn in fünf Jahren sein will, hat Edward deswegen nur eine Antwort: „am Leben“.

VI.

Nachspann zum Film Boyz 'n The Hood: „Einer von 21 schwarzen Männern wird vor Erreichen seines 25. Lebensjahrs ermordet — meist von einem anderen Schwarzen.“

Boyz 'n The Hood. Von John Singleton, mit Ice Cube, Cuba Gooding jr., Morris Chestnut u.a. USA 1991, 112 Min. Ein Porträt von Ice Cube findet sich auf Seite18.