KOMMENTARE
: Recht und Gesetz

■ Die Mordanklage gegen Erich Mielke aus dem Jahr 1934 und die Berliner Justiz

Den heute beginnenden Prozeß gegen Erich Mielke prägen staatsanwaltschaftliche Faulheit, mangelnde Zivilcourage und vorsätzliche Rechtsbeugung. Die Tatsache, daß dieses Verfahren eröffnet werden konnte, sagt mehr über den vorkonstitutionellen Zustand der Berliner Justiz als über die zweifelsohne vorhandenen kriminellen Energien des Angeklagten. Anklagegegenstand ist eine fotokopierte Anklageschrift von anno 1934. Nicht mehr und nicht weniger.

Damit kein Mißverständnis aufkommt: Ein Mord kann und muß, wenn die Verjährung unterbrochen ist, gegebenenfalls auch noch nach sechzig Jahren strafrechtlich verfolgt werden; möglicherweise ist Mielke einer jener Täter, die im August 1931 zwei Polizisten auf dem Berliner Bülowplatz aus politischen Gründen ermordeten. Möglicherweise enthalten Anklageschrift und Urteil von 1934 sogar ein erhebliches Stück Wahrheit — auch Nazirichter und -staatsanwälte logen nicht nur; selbst Aussagen, die mittels Folter erzwungen wurden, können stimmen.

Aber um all das geht es nicht. Es geht einzig und allein darum, ob die damaligen Zeugenaussagen Beweismittel im Sinne der Strafprozeßordnung sein können. Sie sind es eindeutig nicht. Alle Zeugenaussagen wurden rechtswidrig, „unter tätiger Mithilfe der SA“, in einer Situation fast vollständiger Rechtlosigkeit erpreßt. Die 1933 und 1934 in Berlin verhafteten Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter durchlebten in den damaligen Gefängnissen und Konzentrationslagern, Lagern und SA-Kellern die nackte Todesangst: Hunderte wurden schon in den ersten Monaten dieses neuen Deutschlands ermordet, Tausende gefoltert. Die damalige Justiz, die eben keine dritte Gewalt mehr war und sein wollte, eilte keinem zu Hilfe.

Die Urkunden im Mielke-Prozeß sind Verhörprotokolle von Polizei- und Gestapo-Schergen, eine Anklageschrift und ein Urteil jener Karrierejuristen, die gerade glücklich und strebsam in die besser dotierten Stellen ihrer entlassenen jüdischen und sozialdemokratischen Kollegen eingerückt waren und bald zu höheren Weihen im System furchtbarer Juristerei aufstiegen. Wer solche Dokumente heute zu gerichtsverwertbaren Urkunden erklärt und noch nicht einmal den leisesten Versuch unternimmt, sie durch andere Beweise zu ergänzen und zu verifizieren — und genau so verhält sich die Berliner Strafjustiz —, der stellt sich in die Tradition des Unrechts und der Rechtsbeugung: Das gilt für die Richter der 23. Strafkammer, das gilt für die Herren der Anklagebehörde und die — von uns sonst durchaus geschätzte — Justizsenatorin Jutta Limbach. Wer derart agiert, der straft das ständige Versprechen des Klaus Kinkel, der flüchtige Honecker habe (in Berlin) ein strikt rechtsstaatliches Verfahren zu erwarten, vor aller Welt Lügen, der hat seinen Amtseid auf die 'Bild‘-Zeitung, nicht aber auf das Grundgesetz geschworen. Dieser Strafprozeß gehört eher heute als morgen eingestellt. Er ruiniert das Recht.

Die aus dem ersten „Mauerschützenprozeß“ wohlbekannte 23. Strafkammer hat die Kraft zu einem solchen Schritt nicht. Die Richter dieser Kammer sind erst im Durchzug der Wiedervereinigung in ihre jetzigen Positionen aufgerückt. Und lustvoll werden sie sich mit jener speziellen Eitelkeit, wie sie nur bei absoluter Mittelmäßigkeit und gleichzeitiger Überforderung entsteht, im Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit aalen. Merke: „Nicht alles Recht ist, was Gesetz ist“, hatte der Vorsitzende Richter Dr. Theodor Seidel vor genau drei Wochen anläßlich der mündlichen Urteilsbegründung im Verfahren gegen vier ehemalige DDR- Grenzer bemerkt. Ein Satz, der ihn auch diesmal begleiten wird und der seinen Amtsvorgängern, die 1934 den Teil I dieses Prozesses im selben Gebäude und im selben Saal abhandelten, auch schon hilfreich war. Nur waren die nicht auf das Gesetz, sondern auf Adolf Hitler vereidigt. Götz Aly