Der lange Weg von Moabit nach Moabit

■ Die Anklageschrift gegen den Ex-Chef der Stasi ist kein Ergebnis aktueller Ermittlungen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Amtsmißbrauch in 40 Jahren DDR. Mielke (84) muß sich in...

Der lange Weg von Moabit nach Moabit Die Anklageschrift gegen den Ex-Chef der Stasi ist kein Ergebnis aktueller Ermittlungen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Amtsmißbrauch in 40 Jahren DDR. Mielke (84) muß sich in Berlin-Moabit wegen Polizistenmordes im Jahre 1931 verantworten.

Ab heute wird über Erich Mielke zu Gericht gesessen. Verhandelt wird zweimal wöchentlich — allenfalls ein bis zwei Stunden. Ärzte und intensivmedizinisches Gerät stehen bereit, unentwegt wird die (aus dem ersten Mauerschützenprozeß einschlägig bekannte) 23. Strafkammer beschließen, der Angeklagte sei verhandlungsfähig und die Anklage in jeder Weise zulässig. Fraglich, ob Mielke sich auch nur an sein Geburtsdatum erinnert. Ist er nun, wird zu überlegen sein, ein alter, völlig verwirrter Mann oder einer mit allen tschekistischen Wassern des Taktierens und Lügens gewaschener Simulant? Falls man über diese Fragen je zur Sache kommen sollte, dann wird die Verlesung der 250seitigen Anklageschrift allein vier, vielleicht bis zu acht Verhandlungstage dauern.

Vorgeworfen werden Mielke nicht die Verbrechen der Staatssicherheit; vielmehr geht es um eine Tat, die vor mehr als 60 Jahren am Sonntag, den 9. August 1931 gegen 20.15 Uhr, auf dem Berliner Bülowplatz vor der KPD-Zentrale geschah. Damals wurden die Polizeihauptleute Paul Anlauf und Franz Lenck „meuchlings ermordet“, was einer wenig zuvor per Graffiti mehrfach angekündigten Drohung entsprach: „Für einen erschossenen Arbeiter fallen zwei Schupo-Offiziere!!! Rot- Front nimmt Rache. R. F. B. Lebt.“

Am 9. August, dem Tag eines vom „Stahlhelm“ initiierten und von der KPD aktiv unterstützten Volksentscheids zum Sturz der preußischen SPD-Regierung, waren die Voraussetzungen für die angedrohte Rache erfüllt: Am Vortag hatte ein Polizist den 18jährige Arbeiter Fritz Auge erschossen. Die Polizeioffiziere Anlauf und Lenck galten den Kommunisten als rotes Tuch — „Haß! Haß! Haß!“ —, als Inkarnation der als „sozialfaschistisch“ denunzierten SPD-Regierung und -Polizeiführung. Der Mord war nicht das mehr oder weniger zufällige Ergebnis einer erbitterten Straßenschlacht, er war bewußt geplanter „Einzelterror“, wie die KPD-Führung wenig später einräumte und verurteilte.

Laut Anklageschrift aus dem Jahr 1934 wurde die Tat seinerzeit von den Schützen Erich Mielke und Erich Ziemer „vorsätzlich und mit Überlegung durchgeführt“. Beide waren 1931 in die Sowjetunion abgetaucht. Alle Zeugenaussagen, auf die sich die Anklage stützt, stammen aus der Zeit zwischen April und September 1933; zuvor — 1931/32 — war die sofort nach der Tat gebildete Sonderkommission keinen Schritt weitergekommen. Aber dann gelang es „unter tätiger Mithilfe der SA“, reihenweise Kommunisten zu verhaften und ihnen „Geständnisse“ und Aussagen abzunötigen. Wie das im damaligen Berlin in aller Regel vonstatten ging, bedürfte eigentlich keiner weiteren Erörterung, scheint allerdings weder gerichts- noch amtsbekannt zu sein.

Von korrekten Ermittlungs- und Vernehmungspraktiken keine Rede

Als der Prozeß um die beiden auf dem Bülowplatz (zwischenzeitlich in Horst-Wessel-Platz umbenannt, heute: Rosa-Luxemburg-Platz) ermordeten Polizisten am 4. Juni 1934 im Saal 700 des Moabiter Kriminalgerichts begann, war er Teil einer großen politischen Strategie der neuen Regierung, Teil der juristischen Abrechnung mit der verhaßten Weimarer Demokratie. Dieser und andere ähnliche Prozesse wurden politisch und propagandistisch koordiniert. Sie dienten dem Ziel, die Untaten des neuen Staates zu vertuschen und die Gefahr einer kommunistischen Verschwörung an die Wand zu malen: Der erste Abschnitt des Prozesses um den Mord an Lenck und Anlauf, der heute am selben Ort und im selben Saal fortgeführt wird, ging dem sogenannten „Röhm-Putsch“ unmittelbar voraus. Am 30. Juni ließ Hitler mehrere hundert nicht linientreue Nazis, Militärs und Repräsentanten des politischen Katholizismus ermorden.

Von einem rechtsstaatlichen Verfahren, von korrekten Ermittlungs- und Vernehmungspraktiken konnte keine Rede sein. Die Berliner Staatsanwaltschaft stützt sich in dem heute beginnenden Fortsetzungsverfahren nicht auf das alte Urteil, sondern auf die Anklageschrift von 1934. Der Einfachheit halber wurde sie einfach kopiert, nicht ein Satz hinzugefügt, kein Komma verändert. Weder die Anklage, noch die einschlägigen Beschlüsse des Kammergerichts und der zuständigen 23. Strafkammer erörtern ernsthaft die Frage, ob die Ermittlungsergebnisse ihrer Amtsvorgänger im damaligen Berlin heute Grundlage eines Verfahrens sein können. Anders als die Berliner Justizsenatorin Limbach noch im letzten Mai behauptete, fehlt in der alten Akte das Protokoll der Hauptverhandlung, so jedenfalls Jürgen Wetzenstein-Ollenschläger, der Ostberliner Wahlverteidiger Mielkes.

Der damalige Staatsanwalt Dr. Helmut Jaeger wurde schon bald Staatsanwalt am neu geschaffenen Volksgerichtshof. Er hätte in der alten Bundesrepublik genauso wie heute die Staatsanwälte und Richter der „Waldheim- Prozesse“ und längst vor Erich Mielke auf die Anklagebank gehört. Doch starb dieser furchtbare Jurist mit der Pension eines Senatspräsidenten des Oberlandesgerichts München. Der Vorsitzende Richter, Dr. Walter Böhmert, der, obwohl die nach seinem Urteil eigentlichen Täter flüchtig waren, den Bülowplatz-Prozeß dennoch mit drei Todesurteilen abschloß, wurde später Vorsitzender Richter am Sondergericht III — unter anderem zuständig für die Aburteilung von „Judenhelfern“.

Festschreibung eines von der NS-Justiz gesprochenen Urteils

Den publizistischen Flankenschutz für den heute beginnenden Mielke-Prozeß besorgte Jochen von Lang mit seinem Buch Erich Mielke — Eine deutsche Karriere (Rowohlt Berlin). Obwohl ihm die Akten — offenkundig rechtswidrig — zugespielt oder verhökert worden sind, tut von Lang so, als habe sich in der deutschen Polizei und Justiz zwischen 1931 und 1934 so gut wie nichts verändert. Gibt er nicht einen Hinweis auf die veränderten Rahmenbedingungen, auf das Foltern und Erschlagen gefangener Kommunisten. Er tut so, als seien damalige Berliner Gerichte die Objektivität in Person gewesen und formuliert: Im Urteil „wird festgeschrieben ...“ Die einschlägigen Kapitel dieses Buches sind nichts weiter als die von der Firma Rowohlt geadelte Festschreibung eines NS-Urteils, das der Wahrheit vielleicht nahekommt, aber ebenso gut zusammenkonstruiert worden sein kann. In jedem Fall aber wurden die „Geständnisse“ in einer Situation der Todesangst, unter Folter und ohne jeden Rechtsschutz erpreßt.

Von Lang treibt eine durchsichtige, geschäftstüchtige Vorverurteilung: Während er er in anderen Büchern die politische Abteilung (Ia) der preußischen Polizei als Keimzelle der Gestapo beschreibt, plaudert er in dem — „aus Verantwortung vor der Geschichte“ geschriebenen“ — Buch über Erich Mielke von einer harmlos-professionellen Polizeiabteilung, die nicht ein einziges Mal so genannt wird, wie sie eben damals schon hieß, nämlich Gestapo. O-Ton von Lang: „Erst als die Deutschen Hitler zur Macht verhalfen und sein Gefolgsmann Hermann Göring preußischer Innenminister wurde, gingen die Beamten von Ia der Berliner Polizei daran, alte Fälle aufzuarbeiten. Sie hatte jetzt mehr Zeit dafür, wurden Straftaten der Nazis vor und nach 1933 doch gar nicht mehr verfolgt und mit deren Gegnern kurzer Prozeß gemacht.“ Mit anderen Worten: Die Nazis entlasteten auf ihre (sicher nicht ganz schöne Weise) die politische Polizei (= Gestapo) und die Justiz, die dank dieser Entlastung umso effizienter für Gerechtigkeit sorgen konnten — unter dem preußischen Ministerpräsidenten und Innenminister Göring und unter dem neuen Staatssekretär im preußischen Justizministerium Roland Freißler. Na bitte!

Konsequent bügelt von Lang die Fakten. In einem faximilierten Aktenstück steht beispielsweise unter Hinweis auf die damals üblichen Vernehmungspraktiken: „Auf dieses Geständnis hin gelang es, Matern in seiner Wohnung festzunehmen und ihn nach einigen Tagen zu einem teilweisen Geständnis zu veranlassen.“ Von Lang macht daraus: „Kaum war Matern festgenommen, gestand auch er bereitwillig, was er wußte ... Er bestätigte, daß der Genosse Erich Mielke sich zur Rolle des Attentäters freiwillig gemeldet hatte.“ In der Hauptverhandlung gab Frau Matern an, ihr Mann sei gefoltert worden. Ein Faktum, das man herausfinden kann, auch wenn das Protokoll dieser Verhandlung angeblich fehlt. Götz Aly