Kreuzberg und Prenzlberg — zwei Legenden verblassen

■ Zur Stadtgeschichte zweier »Zwillingsbezirke«: Arbeiterbezirk, Alternativmilieu und Oppositionskultur/ In den zwanziger Jahren zählten beide zu den dichtbesiedeltsten Stadtvierteln der Welt/ Hausbesetzungen in den siebziger Jahren/ Seit dem Mauerfall hat beide Bezirke eine Identitätskrise erfaßt

Berlin. Altbauten und Kopfsteinpflaster, Abriß- und Sanierungsgebiet, Künstler- und Bohèmeviertel, Oppositionsszene und Widerstandskultur, skurrile Kneipen und Bars... Vermutlich ließe sich die Reihe noch beliebig verlängern, um jene beiden Berliner Bezirke zu charakterisieren, die von Mythen und Legenden umrankt sind und die sich, ob gewollt oder ungewollt, in vielerlei Hinsicht fast wie Zwillinge ähneln: Kreuzberg und der Prenzlauer Berg.

Nähert man sich heute beiden Stadtbezirken jeweils »auf Stelzen«, also mit der als Hochbahn auf einem Viadukt geführten U-Bahn, so fallen dem Betrachter rechts und links des Weges eine ganze Reihe von Ähnlichkeiten auf. Alte, teils verkommene, teils erhaltene und restaurierte Wohnhäuser aus der Gründerzeit, die viel Historisches in sich bergen: die Geschichte der Wohnverhältnisse während der zwanziger Jahre, in denen beide Stadtteile mit zu den am dichtesten besiedelten der Welt gehörten; Einschußlöcher an maroden Fassaden zeugen von Straßenschlachten und Häuserkampf am Ende des Zweiten Weltkrieges; verwitterte Schriftzüge neben manchen Eingangstüren verweisen auf ehemaliges Gewerbe in den Hinterhöfen hin.

Beiden Stadtbezirken ist gemeinsam, daß sie nach einer Anhöhe benannt wurden, und zwar erst ein Jahr nach Gründung Groß-Berlins. So wurde 1921 der Bezirk Hallesches Tor in Kreuzberg umbenannt, und aus Prenzlauer Tor wurde Prenzlauer Berg. Ihre architektonische Prägung erhielten beide Bezirke während der Gründerjahre Ende des vergangenen Jahrhunderts. Damals benötigte das prosperierende Berlin Wohnraum, um den immensen Bevölkerungszuwachs auffangen zu können. Man entschied sich, all jene Gebiete dicht zu bebauen, die sich um das Zentrum Alt-Berlin gruppierten. Dazu gehörten auch Kreuzberg und Prenzlauer Berg.

In dieser Zeit entstanden die Mietskasernen mit drei oder vier Hinterhöfen, die vorwiegend von Arbeiterfamilien bewohnt wurden. Wenig verwunderlich, daß sich hier sozialer Sprengstoff entwickelte, angesichts der unzumutbaren Wohnverhältnisse. So lebten zum Beispiel im Jahre 1920 auf den rund zehn Quadratkilometern im Prenzlauer Berg cirka 320.000 Menschen — Weltrekord!

Mit dem Erstarken der Arbeiterbewegung wurden auch der Prenzlauer Berg und Kreuzberg zu Hochburgen der Sozialdemokratie und später der USPD beziehungsweise der Kommunistischen Partei. Nicht zufällig verlegte die SPD 1891 ihre Parteizentrale in die Kreuzberger Katzbachstraße, und nicht ohne Grund wurden viele Parteiveranstaltungen im »Berliner Prater« im Prenzlauer Berg durchgeführt. Dort hielten August Bebel und Rosa Luxemburg, führende Köpfe der Arbeiterbewegung, ihre Reden.

Vielleicht geht der den beiden Bezirken auch heute noch vorauseilende Ruf, »Brutstätte« oppositionellen Verhaltens zu sein, auf die Entwicklungen jener Jahre zurück. Für die sich vornehmer dünkende Berliner Gesellschaft, vorzugsweise im Westen beheimatet, galten damals jedenfalls beide Bezirke im ohnehin »roten« Berliner Osten als besonders aufmüpfig.

Während der NS-Diktatur organisierte sich auch im Prenzlauer Berg und in Kreuzberg der Widerstand, der den braunen Horden allerdings hoffnungslos unterlegen war. Schon sehr bald nach dem 30.Januar 1933 entstanden in beiden Bezirken die ersten Folterkeller der Nazis. Koordinationszentrum der Kreuzberger SA- und NSDAP-Schergen war ein Haus in der Wiener Straße in SO36.

Nach 1945 standen die Menschen beider Bezirke vor denselben Alltagsproblemen: ausgebombt und wohnungslos, Lebensmittel knapp und Trümmerberge, soweit die Augen reichten. Politisch hingegen klaffte die Schere bekanntlich immer weiter auseinander, erst recht nach dem Mauerbau. Dennoch lassen sich auch nach 1961 ähnliche Entwicklungen nachzeichnen. Die Hausbesetzer wurden in den siebziger Jahren in beiden Bezirken aktiv, ebenso wie die politische Opposition. Eine spezifische Kunst- und Kulturszene blühte in beiden Stadtteilen auf, die nur wenig mit dem offiziellen Kulturbetrieb gemein hatte. Andererseits wurde Kreuzberg durch den Zuzug von vielen »Gastarbeiterfamilien« zu einer Art »Dorado für multikulturelles Leben«, während man im Prenzlauer Berg unter den DDR- Verhältnissen im wesentlichen »unter sich«, also deutsch bleiben mußte.

Auch derzeit stehen beide Bezirke vor vielfältigen Problemen: Die explodierenden Mieten lassen befürchten, daß die bunt gemischte Bevölkerungsstruktur beider »Bergstämme« nicht erhalten werden kann. Die zentrale Lage in der wiedervereinigten Hauptstadt fordert ihren Tribut.

Daneben scheinen beide Bezirke von einer Art Identitätskrise erfaßt zu sein, die sich zuweilen mit einer gewissen Larmoyanz paart, »Kreuzberg ist nicht mehr Kreuzberg, und der Prenzlberg ist auch nicht mehr das, was er mal war.« Nicht zuletzt die jüngsten Stasi-Enthüllungen über einen Teil der »Szene« am Prenzlauer Berg lassen den Mythos von der (staats-)freien Insel im verordneten und muffigen DDR-Alltag mehr als wanken. Und auch das gehegte und gepflegte Kreuzberger Nischendasein im Schatten der Mauer wird wohl unwiderruflich der Vergangenheit angehören. Volker Kamm