Kuba: Vom Schiff ins Rettungsboot

Im Bewußtsein, daß das kubanische Modell in der Krise steckt, fällt Fidel Castro derzeit nichts ein — außer der Proklamation eines „besonderen Zeitraums“. Die Bevölkerung macht sich noch andere Gedanken.  ■ VON GABY WEBER

Havanna im Winter. An der Universität wird hitzig diskutiert. Thema der dreitägigen Veranstaltung: „Die Sozialwissenschaften heute.“ Aber eigentlich geht es in den Arbeitsgruppen und Podiumsdiskussionen nur um ein Thema: Wie geht es weiter in Kuba?

Ein Blatt vor den Mund nimmt keiner mehr, und auch ausländischen Besuchern ist das Mitschneiden erlaubt. „Auch wenn das kubanische Experiment von Anfang an auf sozialem Konsens und der Beteiligung des Volkes basierte, war der Sozialismus nicht in der Lage, die notwendige Demokratie wirklich zu errichten“, gesteht Aurelio Alonso, Ex-Botschafter in Frankreich und heute Forscher im Zentrum für Amerikastudien (CEA). „Das Einparteiensystem hat nicht, wie es die historische Erfahrung des antikolonialen Befreiungskampfes gelehrt hatte, zur Einheit geführt, sondern zum Ausschluß abweichender Meinungen“, heißt es vom Podium herab. Mit neuen Gesetzen und einer Reform der Justiz sollen Rechtssicherheit garantiert und Bürokratie und Zentralismus beschränkt werden.

„Der übertriebene Zentralismus hat die individuelle Initiative und die intellektuelle Leistungsfähigkeit getötet“, schimpft der junge Philosophie-Professor Davolo. Und obwohl die kubanische Gesellschaft keine Klassengesellschaft sein soll, seien heute „soziale Gruppen entstanden, die durchaus den Namen Klasse verdienen“, so Luis Toledo, Hochschullehrer für Pädagogik. „Dank Bürokratie, Diebstahl und Schwarzmarkt hat oft das reale Einkommen mit dem Nominallohn nichts zu tun, öffentliches Eigentum kommt nicht der Gemeinschaft zugute, sondern denjenigen, die es verwalten.“

Die Dreißigjährigen sind ratlos

Das dreitägige Treffen in den Hallen der Philosophischen Fakultät war Ausdruck der Ratlosigkeit der kubanischen Intellektuellen, vor allem der Generation der Dreißigjährigen. Die Insel steht nach dem Zusammenbruch des europäischen Ostblocks vor dem Kollaps. Da sind Lösungen, seien sie auch noch so gewagt, gefragt wie nie zuvor.

Nachdem die Sowjetunion kaum noch Erdöl liefert, muß auf dem freien Markt in Devisen eingekauft werden. Es fehlt an allen Ecken und Enden. Die Industrie produziert wegen Rohstoff- und Ersatzteilmangels nur noch 20 Prozent der Vorjahresleistung. Die Traktoren stehen ungenutzt in den Scheunen, Ochsenpflüge aus vorindustriellen Zeiten sollen ihre Arbeit übernehmen. Die Kredite für das im Bau befindliche Atomkraftwerk bei Cienfuegos wurden gestrichen und die russischen Atomtechniker abberufen. Mit ihrem ersten AKW wollte sich die Insel aus der Ölabhängigkeit befreien. Andere Energiequellen wie Wasserkraft stehen nicht zur Verfügung, die Flüsse weisen wenig Gefälle auf, und Alternativen wie Biogas-, Solar- und Windenergie befinden sich erst in der Experimentierphase und bieten allenfalls langfristig einen Ausweg, falls von irgendwoher Kapital aufgetrieben werden kann.

Ein „besonderer Zeitraum“, ein periodo especial, so heißt die offizielle Sprachregelung, ist angebrochen. Niemand zweifelt am Ernst der Stunde. „Wir sind von einem sinkenden Schiff in letzter Minute auf ein kleines Rettungsboot gesprungen“, erklärt der Geschichtsprofessor Alberto Prieto, „und da werden wir ausharren, bis wir in Sicherheit sind. Niemand wird sich ins Wasser stürzen, nur weil wir nicht in drei Tagen gerettet werden.“

Es geht ums schiere Überleben, nicht mehr um „Venceremos“. Noch besitzt das Land eine ansehnliche Zahl hochqualifizierter Wissenschaftler, vor allem im Bereich der Pharmazeutik und der Biotechnologie. Die Patentierung eines Aids- Impfstoffes, an dem man mit Volldampf arbeitet, könnte Luft zum Atemholen bescheren. Doch auch die Patentierung kostet Geld — Devisen, versteht sich. Insgesamt sind die Exportchancen alles andere als rosig. Der Handelsboykott der USA ist undurchlässiger denn je, und die Regeln des Weltmarkts sind nicht über Nacht zu lernen.

Doch neue Ideen, wie das Land aus der Sackgasse geführt werden könnte, sind rar, und über den kritischen Köpfen klafft immer noch das Damoklesschwert, in die antinationale Dissidentenecke gedrängt zu werden. Die „chronische Paranoia“, die zwar auf einer realen militärischen Bedrohung beruht, sich aber längst verselbständigt hat, so Professor Toledo, feiert Rekorde.

Fahrräder mit Rücksitz als Sammelbusse

Isabel studiert Philosphie. Wegen der Energiekrise sollen die Vorlesungen jetzt auf drei Tage pro Woche beschränkt werden. Doch ungewiß ist, ob sie denn überhaupt zur Universität gelangt. Omnibusse verkehren nur noch sporadisch, stets überfüllt mit Menschentrauben an allen Türen.

Die Regierung verteilte ein Million Fahrräder, made in China, und reservierte die halbe Fahrbahn der prächtigen Uferpromenade Malecon den Radlern. Eigentlich gefalle ihr der neue Straßenverkehr gut, meint Isabel, aber sie sei im Moment so schwach, daß sie sich nicht zutraue, in der Hitze täglich zwanzig Kilometer auf dem Drahtesel zu strampeln. Wie die meisten ihrer Geschlechtsgenossinnen zieht sie es vor, sich auf dem Rücksitz, beide Beine zur Seite gesteckt, kutschieren zu lassen.

Auf Bezugsschein, zählt Isabel auf, erhält sie wöchentlich fünf Eier, einen Fisch, einmal im Monat gibt es ein Huhn, zwei Kilo Reis und Zucker, eine Seife und ein Pfund Waschpulver. Milch erhalten nur Kinder unter zehn Jahren. Zum Glück kann sie mittags in der Mensa essen — demnächst leider nur noch dreimal pro Woche.

Ob sie unter diesen Bedingungen ihr Studium abschließen wird? „Im Grunde ist das ziemlich egal“, meint Isabel, „was kann ich hier schon als Philosophin anfangen?“ Arbeitslose männliche Akademiker werden zum Ernteeinsatz aufs Land abkommandiert, und die weiblichen Hochschulabgängerinnen bekommen meist einen Job im Tourismus, als Zimmermädchen, Kellnerin, Reiseleiterin. Nicht wenige sollen sich auch im „horizontalen Gewerbe“ verdingen.

Die junge Generation, geboren nach der Revolution, drängt heute mit aller Kraft auf den Arbeitsmarkt. Dank ausgezeichneter Schulen und Universitäten besitzt sie eine erstklassige Ausbildung, darin der Generation ihrer Eltern haushoch überlegen. Trotzdem findet sie keine Anstellung, denn die wenigen interessanten Posten sind von den Älteren besetzt, die keine Anstalten machen, sie freiwillig zu räumen. Und da die Wirtschaft im periodo especial nicht wächst, entstehen keine neuen Arbeitsplätze. Die Jungen fühlen, daß sie zu spät gekommen sind.

Ob denn die neuen Joint Ventures Abhilfe schaffen können? Ein neues Gesetz garantiert ausländischen Investoren Steuerfreiheit und freien Gewinntransfer. Isabel ist eher skeptisch: Man müsse abwarten. Sie hat wenig Vorstellungen davon, wie sich die Joint-Venture-Betriebe auf ihren Alltag auswirken werden. Bislang gibt es kein Streikrecht, da es gemäß der offiziellen Ideologie auf Kuba keine Ausbeutung des Menschen durch den Menschen mehr gibt. Doch in Zukunft werden sich die Ausländer den Mehrwert aneignen. „Werden wir gegen die Kapitalisten streiken dürfen“, fragt die Studentin.

An eine Änderung der Arbeitsgesetzgebung denkt im Moment niemand. Formell bleiben die Arbeiter Angestellte des kubanischen Staates, der sie in Pesos entlohnt und für ihre soziale Sicherheit sorgt. Sie müssen — dank der herrschenden Informationspolitik — auch nicht unbedingt erfahren, wer ihr wirklicher Chef ist.

Noch wird mit Mühe die Gesundheitsfürsorge aufrechterhalten, und an Präservativen, made in China, besteht kein Mangel. Aber wem der Arzt statt Pillen täglich einen halben Liter Milch verschreibt, der muß sich auf dem Schwarzmarkt bedienen. Dort gibt es, was in den staatlichen Läden schon lange fehlt: Seife, Milchprodukte, Bier. Die Schattenwirtschaft ist die einzige Branche, die riesige Wachstumsraten aufweist. Alle decken sich dort ein — die einen, mangels Alternative, notgedrungen, die anderen machen mit Wucherpreisen saftige Profite.

Noch sind Gleichheit und soziale Gerechtigkeit erklärte Ziele des kubanischen Staates, aber schon stehen sich in der Gesellschaft zwei Klassen gegenüber — die Masse der Besitzlosen und diejenigen, die an der Dollar- Zirkulation teilhaben: dienstreisende Funktionäre, Betriebsleiter, die die Produktion in die Schattenwirtschaft umleiten, und die Könige des Parallelmarktes.

Politische Opposition wächst noch nicht

Eine politische Opposition, die nicht aus Miami gesteuert ist, konnte bisher nicht heranwachsen. Kritik und Widerspruch waren schon immer ein schwieriger Seiltanz. Wer öffentlich und nicht innerhalb der vorgeschrieben Instanzen wie Partei und Massenorganisationen protestierte, wurde schnell als „Konterrevolutionär“ abgestempelt, auch wenn er nur Korruption oder Bürokratie anprangern wollte. „Die meisten unserer Jugendlichen sind nicht gegen den Sozialismus, aber sie wollen mehr Beteiligung, mehr Mitsprache, mehr Kontrolle“, sagt Teresa Munoz. Aber wie sie ihren Unmut formulieren sollen? Das sei „sehr schwierig“, gibt die Vizedekanin zu, denn Widerstand innerhalb bestimmter Grenzen erfordere „Erfahrung und Reife“. Die Partei von innen heraus zu reformieren, hält Isabel für hoffnungslos. Abweichende Meinungen werden unterdrückt, wenn auch nicht mit physischer Gewalt. Doch wer zu den „freiwilligen“ Arbeitseinsätzen nicht erscheine, werde von linientreuen Professoren und Kommilitonen registriert.

Die schärfsten Kritiker neutralisiert der Apparat durch Vereinnahmung. Der Erste Sekretär der Kommunistischen Jugend, Roberto Robaina, hatte, unnachgiebig und brillant formuliert, mehr Raum für die Jugendlichen gefordert. Auf dem letzten Parteikongreß wurde er ins oberste Führungsgremium, ins Politbüro aufgenommen. Mit diesem administrativen Akt erfüllte die Partei auf ihre Weise die Forderung nach mehr Beteiligung der Jugend. Für seine ehemaligen Mitstreiter ist „Robertico“ nun zum Bürokraten geworden, samt Villa im vornehmen Stadtteil Kohly.

Von den Menschenrechtsgruppen hält Isabel nichts. Deren Kritik, wonach die Castro-Regierung systematisch die Grundrechte verletze, überzeuge in einem Kontinent blutiger Repression wenig. Es ist stadtbekannt, daß die beiden bekanntesten Dissidenten, die Brüder Elizardo und Gerardo Sanchez, sich regelmäßig mit Gleichgesinnten in ihrer Wohnung treffen und ausländischen Journalisten Interviews geben, ohne daß ihnen die Lebensmittel-Bezugsscheine entzogen werden oder sie mit Gefängnis rechnen müssen. Sie haben beste Beziehungen zur US-Vertretung aber keine Basis im eigenen Land — „auch wenn das manchmal so scheint“ (Isabel). Neulich sei Thais, eine Studienkollegin, bei einer Sitzung der Menschenrechtsorganisation angetroffen und sofort als „Konterrevolutionärin“ von der Universität geworfen worden. Die Studenten, die zwar mit ihrer politischen Meinung nicht sympathisierten, hatten ihren Relegation verhindern wollen. Doch noch bevor sie sich für Thais bei der Hochschulleitung einsetzen konnten, berichtete aus Miami der US-Sender „Radio Marti“ über den Fall und stilisierte sie zur Studentenführerin hoch. Ab diesem Zeitpunkt rührte sich für sie kein Finger mehr.

Mangelne Courage sei das Ergebnis eines jahrzehntelangen Paternalismus, glaubt die Soziologin Maria Isabel Dominguez, „er dominiert alle Ebenen der Gesellschaft, in der Familie, am Arbeitsplatz und in der Politik“. Achtzig Prozent der Kommunikation zwischen Eltern und Kindern, haben ihre Forschungen ergeben, beziehen sich auf Kontrolle, die Kinder werden an familiären Entscheidungen nicht beteiligt. „Sie werden in Watte gepackt, auch von solchen Vätern oder Müttern, die selbst in den ersten Jahren der Revolution mit 12 oder 13 Jahren in die Berge in den Kampf oder zur Alphabetisierungskampagne gezogen sind. Ihren eigenen Kindern trauen sie das nicht zu.“

Die KP hofft, mit revolutionärer Opferbereitschaft des Volkes den Tiefpunkt zu überleben. Das Land brauche mehr Handwerker, Facharbeiter und Bauern als Ärzte und Sozialwissenschaftler. Mehr Fahrräder und mehr Ochsenpflüge heißt ihre Devise, während die Jugendlichen T-Shirts, Plattenspieler und ein eigenes Auto im Kopf haben. Das Fahrrad ist für sie keine freiwillige Option für ein ökologisches Projekt, sondern Symbol einer Niederlage, die es so schnell wie möglich zu überwinden gilt. Nach der Aufhebung der Reisebeschränkungen wollen sie sich die Welt anschauen, statt unterirdische Verteidigungsanlagen zu bauen und Felder zu pflügen. Kostenlose Schulen und Hospitäler sind zur Selbstverständlichkeit geworden und haben den Horizont für andere, kulturelle Werte geöffnet. Doch die sind heute weniger erreichbar denn je.