PORTRÄT
: Sympathie für den redlichen Antihelden

■ Paul Tsongas ist der überraschende Favorit unter den Kandidaten der Demokraten

Gewöhnlich schwimmt Paul Tsongas seine Bahnen in gemächlichem Bruststil. Doch seitdem ihn Medien und Meinungsumfragen überraschend zum demokratischen Favoriten der Vorwahlen in New Hampshire erkoren haben, schmettert er vor den Fernsehkameras im kräfteaufreibenden Butterfly durchs Wasser; auch im Physischen muß der ehemalige Senator aus dem Bundesstaat Massachusetts der Öffentlichkeit erst noch beweisen, daß er die Kraft für das Amt des Präsidenten hat. Denn noch vor fünf Jahren kämpfte Tsongas statt um politische Ämter um sein Leben. Nach der Entdeckung von Krebs und seinem Rücktritt aus dem US-Senat gaben ihm die Ärzte noch ein paar Jahre. Doch infolge intensiver chemotherapeutischer Behandlung und einer erfolgreichen Knochenmark-Transplantation präsentiert sich Tsongas heute als geheilter und fitnessbewußter Herausforderer George Bushs.

Daß der 51jährige Paul E. Tsongas das innerparteiliche Rennen um die Kandidatur machen wird, ist eher unwahrscheinlich. Als er im letzten Herbst als erster den Kampf um den Posten des demokratischen Präsidentschaftsbewerbers aufnahm, wurde der Anwalt aus der Industriestadt Lowell allgemein belächelt. „Noch ein Grieche aus Massachusetts“ nannte ihn abschätzig eine Presse, die sich nur allzu gut daran erinnerte, wie sein ebenfalls griechisch-stämmiger Vorgänger Michael Dukakis dem heutigen Präsidenten George Bush im Wahlkampf von 1988 hilflos unterlegen war.

Doch gegen Paul Tsongas sprechen nicht nur seine Krankheit und seine Herkunft, sondern viel mehr noch seine absoluter Mangel an Ausstrahlung. Der Mann hat das Charisma eines traurigen Staubsaugervertreters — nicht gerade die beste Voraussetzung für einen Fernseh- Wahlkampf. Gegen den jung-dynamischen Bill Clinton aus Arkansas gab ihm noch im Januar niemand auch nur die Spur einer Chance.

Bis dann die unbewiesenen Anschuldigungen gegen Clinton — von Ehebruch und einer allzu eleganten Umgehung des Kriegsdienstes in Vietnam war da die Rede — Zweifel an dessen Glaubwürdigkeit aufkommen ließen. Wenig beeindruckt von den übrigen drei demokratischen Kandidaten warfen die Bürger von New Hampshire einen zweiten Blick auf Tsongas — und fanden in ihm einen redlichen Wahlkämpfer, eine ehrliche Haut. Endlich ein Demokrat, der nicht nur das Herz, sondern auch das Scheckbuch am richtigen Fleck trug, der für Sozialprogramme aber nicht gegen das „Business“ war; und der, lange bevor alle anderen von der wirtschaftlichen Malaise Amerikas sprachen, schon sein 86seitiges Wahlmanifest Einen Aufruf zu den wirtschaftlichen Waffen verfaßt hatte.

Seitdem hat Amerika einen neuen Antihelden. Wo Ronald Reagan in den boomenden 80er Jahren nur fernsehgerechte Hülle war, ist Paul Tsongas in den rezessiven 90ern ganz untelegene Substanz. Während George Bush den in der Ferne siegreichen Feldherr verkörpert, steht der Mann aus Massachusetts für den Kampf gegen die Rezession an der Heimatfront. Und statt wie Bill Clinton ganz auf seine Wählbarkeit in allen Bevölkerungsschichten zu setzen, kokettiert Tsongas selbst mit seinem Vorsprung in den Meinungsumfragen von New Hampshire noch mit seinem Image als nationaler „Underdog“.

Paul Tsongas mag nach einem Sieg in New Hampshire nur die 15 Minuten jenes Ruhmes genießen, die nach Andy Warhol jedem Amerikaner zustehen, ehe er in den folgenden Vorwahlen wieder in der politischen Versenkung verschwinden wird. Doch bis dahin scheint er für die rund 30 Prozent der demokratisch registrierten Wähler, die ihm am Dienstag in New Hampshire ihre Stimme geben wollen, eine ideale Metapher für ihre Vorstellung von der Zukunft Amerikas abzugeben: den Wunsch und die Entschlossenheit, mit einer mutigen Operation von der ökonomischen Krankheit geheilt zu werden.