Orale Qualen

■ Über Sprachschulen-Horror, Wasserbetten und die Tücken des Berliner Dativs

Wie kommt ein Ausländer in Berlin zur Tapferkeitsmedaille? Indem er einen Fuß auf den Fahrradweg setzt? Indem er sich weigert, Hosen aus Leder zu tragen? Samstag morgens im KaDeWe einkauft? Auf die Deutsche Bundespost geht? Falsch. Wahren Mut beweist ein Ausländer in Berlin, wenn er sich zu einem Deutschkurs anmeldet, tatsächlich auch zum Unterricht erscheint, seine Mitstudenten die ganzen endlosen Wochen über erträgt und dann auch noch versucht, seine frisch erworbenen Deutschkenntnisse da draußen auf den Straßen Berlins anzuwenden.

Egal, welche Sprachschule man wählt, die Klasse wird immer einem Abklatsch farbenfroher Benetton- Reklame gleichkommen. Das ist nicht zu vermeiden in einer Stadt, in der es nur so wimmelt von menschlichem Importgut. Für gewöhnlich läßt dieses multikulturelle Allerlei keine Gefühle von Einheit zu, um so mehr trägt es dazu bei, nationale Klischees, nie gekannte theatralische Gebärden, Konkurrenzkampf und Gruppenparanoia erst aufkommen zu lassen. Gelegentliche kleine Gefühlsausbrüche, bis hin zu blutigen Schlägereien mit Verwundeten, Polizeiaufgebot und gerichtlichen Folgen müssen auf dem beschwerlichen Weg zum korrekten Dativ hingenommen werden und für einen Australier, dem beim Wort »ausländisch« eigentlich nur Pizza einfällt, kann ein Einblick in die so mannigfaltigen Traditionen anderer Länder hin und wieder ziemlich verwirrend sein.

In einer Klasse, in der ich neben Ägyptern saß, die, wenn sie etwas bejahen wollten, immer den Kopf schüttelten, dauerte es Wochen, bis bei mir der Groschen fiel. Der Lehrerin ging es ähnlich — Vulkane schienen in ihr auszubrechen, als nach dem zehnten flehenden »Alles verstanden?« immer die gleichen freudestrahlend den Kopf schüttelten. Manchmal kann das Zusammenstoßen verschiedener Kulturen auch ohrenbetäubend sein, wie eines Abends im Unterricht, als eine dunkelhäutige Amerikanerin die erotischen Vorzüge ihres Wasserbetts erläuterte, woraufhin die unschuldigen Augen ihres senegalesischen Nachbarn, der offensichtlich noch nie auf Wasser geschlafen hatte, immer größer wurden, bis er zu fragen wagte: »Oh, und haben Sie auch Fische in Ihrem Wasserbett?«

Nachdem wir den grammatikalischen Horror, den das Deutschlernen mit sich bringt, überstanden und viele neue und exotische Freunde gewonnen haben — zumindest deren Telefonnummern —, gilt es jetzt, Berlin allein die Stirn zu bieten. Das ist nicht eben leichter. Es fängt schon damit an, daß kein Berliner zulassen kann, daß seine Sprache verunstaltet wird und für gewöhnlich ohnehin besser Englisch spricht als wir. Der bloße, meist beim ersten Wort resigniert beendete Versuch, Deutsch zu sprechen, genügt schon, um eine höfliche, aber bestimmte Antwort auf englisch zu bekommen. Das kann einen Ausländer, verzweifelt auf der Suche nach der korrekten Aussprache, zum linguistischen Wahnsinn treiben, wie ein Freund mir erzählte: »Ich mühe mich ab, dem Taxifahrer die Straße in schönstem Deutsch zu nennen, und er antwortet mir seelenruhig auf englisch. Zum Donnerwetter!«

Natürlich können die Berliner, was ihre Sprachkenntnisse angeht, recht bescheiden sein, und ich weiß jetzt, daß ein Berliner, der angeblich »nur ein wenig Englisch spricht« wahrscheinlich Anglistikprofessor ist und Shakespeare als leichte, unterhaltsame Bettlektüre wählt. Ein zentrales Problem liegt meines Erachtens darin, daß die Berliner Realität mit der Theorie gar nicht übereinstimmt. In meinem Kurs verbrachten wir Wochen mit: »Ich heiße...« und: »Ich komme aus...«, aber seltsamerweise kann ich keine der beiden Phrasen je in der Zeitung finden, dafür haben die Berliner eine recht eigenwillige Art, manche Wörter auszusprechen: »Was« hört sich an wie »Wat«; »das« wird zu »dat«; »icke« soll »ich« sein, und »grün« zerfällt in den Zungenbrecher »jrün«.

Die Berliner Sprache wird noch irritierender, wenn unser Gegenüber einen bestimmten Geldbetrag mit »een« oder »zwo« drin von uns verlangt. Meine Lösung ist immer, den größten Schein auszuhängen und dem Beten anheimzufallen. Außerdem befürchte ich, bald in Akkusativ und Dativ den Verstand zu verlieren. Im Unterricht waren wir immer gezwungen, auf die Nase für Akkusativendungen — den, ihn, einen — und auf den Mund für Dativendungen — ihm, dem, einem — zu zeigen, nach dem Motto »Zeig mir eine Gesichtspartie, und du vergißt die Endung nie!«

Jetzt merke ich zu meinem Schrecken, daß es mir wie dem Pawlowschen Hund geht — jedesmal, wenn ich auf deutsch um etwas bitte oder einen Grammatikfehler höre, führe ich unweigerlich den Zeigefinger zu Mund oder Nase.

Dermaßen eingehämmert wurden uns diese Formen, daß wir es nicht mehr wagen würden, »dich« mit »dir« zu verwechseln, und so werden wir auf die Berliner losgelassen, die, wie wir mit Entsetzen feststellen, es gar nicht so genau nehmen und ohnehin mit Vorliebe im Dativ sprechen. Da soll einer die Welt verstehen! Aber der Tatsache ins Auge zu sehen, daß Sprachen für die Berliner wie Statussymbole sind, das ist für uns Ausländer das schwerste. Seine eigenen linguistischen Grenzen zu erkennen, kann erschütternd sein. So geschehen, als mir kürzlich auf einer Party ein freundlicher Berliner eine wahre Orgie an Sprachen anbot: »Wie sollen wir uns unterhalten... deutsch, englisch, spanisch, französisch, italienisch?« Ach, ich weiß auch nicht. Worte sind wie Schall und Rauch. Wie wär's mit Gedankenübertragung? Stephen Freeth