Zentrum und Vorstadt um 1900

■ Ein Buch mit Fotografien von Georg Bartels

Wenn man es so sehen will, besteht Berlin aus mehreren übereinanderliegenden, von unseren Vorfahren gebauten, Schichten. Das, was wir momentan zu sehen bekommen, ist die Oberfläche einer viele Male überholten und auch an vielen Stellen überholungsbedürftigen Stadt. Die Überarbeitungen fanden zum Teil gewaltsam statt, wenn zum Beispiel Kriege tobten oder totalitäre Ideologien meinten, ihren Kleingeist auch noch in kristallinhart gebaute Formen pressen zu müssen. (In letzter Konsequenz ist die Individualverkehr-Auto-Verkehrsstraßen-freie-Fahrt-für- alle-Ideologie wohl die zerstörerischste des 20. Jahrhunderts.) Die anderen Überarbeitungen wurden vorgenommen, wenn Gebäude abbruchreif waren oder wenn Platz geschaffen werden mußte für neue städtische oder sonstige öffentliche Funktionsbereiche wie Bahnhöfe, Rathäuser, Verwaltungsbauten, Kasernen, Stadien und so weiter. Es gab auch noch verschiedene andere Gründe, die Menschen dazu bewegten oder zwangen, ihre Stadt umzubauen, umzugestalten, in ihr Netz, in ihr gewachsenes Gewebe einzugreifen. Manche scheinen im nachhinein zwingend, manche wiederum absurd und zwanghaft. — Abzulesen sind diese Überlagerungen in Berlin an immer weniger Stellen. Unser durchrationalisiertes Straßennetz aus dem 19. Jahrhundert mit den diese Straßen flankierenden Mietshausbauten ist schematisch und langweilig — gerade dadurch aber in hohem Maße in seinem eigenen System flexibel. Es gibt wahrscheinlich noch für einige Generationen ein brauchbares und funktionierendes Muster her, mit dem es gilt, an dieser Stadt weiterzustricken (siehe den Wettbewerbsentscheid für den Großbereich Potsdamer/Leipziger Platz).

Stadtwanderungen vorzunehmen, auf denen man noch Bruchteile oder Bugspitzen älterer — nach Abrißwut, Kriegseinwirkungen oder Verkehrsideologien und damit unter Bauschutt — verborgener und versunkener Stadtreste findet, müssen zwangsläufig entweder an den Stadtrand oder an die zum Teil unselig musealen Stellen der Stadt verlegt werden (an dieser Stelle muß beispielsweise mal auf dieses gräßliche, kitschige und unsagbar peinliche Stückchen »historisches« Gemauere auf der Mitte der Stresemannstraße geschimpft werden: wenn sich dieses gymnasiale Geschichtsdenken in dieser Stadt irgendwann mal durchsetzt, sind wir alle Pförtner in Engel-Land — im Sinne eines Disneylands).

Eine andere Möglichkeit der Durchwanderung und Wunderung bieten uns aber auch die seit Monaten erscheinenden und teilweise sehr guten Fotobücher, in denen uns unsere Stadt auf wundersame Weise und unverhohlenen Blickes dargeboten wird. Ich sprach an dieser Stelle schon einmal über die Möglichkeit des Hin- und Neusehen-Lernens mit Hilfe dieser Bücher — bezogen auf die uns verlustig gegangene Sensibilität für Stadtraum und dessen Qualitäten. Und bezogen auf die unter Umständen untergeordnete Qualität der diesen Stadtraum bildenden einzelnen Architekturwerke. Nicht etwa, daß wir diese Qualität nicht auch allerorten einzuklagen haben bei unseren (manchmal auch weniger) geschätzten Kollegen Architekten — dafür sind uns zu gute Beispiele dieses Zusammenwirkens von den diesen Stadtraum bildenden Architekturen bekannt, zum Beispiel Friedericianum und Schloßplatz oder das Schaubühnen-Ensemble am Kurfürstendamm — aber im Zweifelsfall muß der Stadtraum, besser dessen Qualität, Vorrang haben: denn die Architekturen, die einzelnen Bauwerke sind austauschbar innerhalb eines räumlichen Zusammenhangs.

Also: Veränderungen, Überbauungen, Überlagerungen. Diese hat Georg Bartels mit seiner Kamera festgehalten. Das Buch, das es hier anzuzeigen gilt, vereinigt eine Reihe von Fotografien, die ein mit geschultem Blick ausgestatteter Fotograf während der viel und oft beschworenen Jahrhundertwende als lustwandelnder Hinseher gemacht hat. Einerseits haben diese Fotos etwas ganz und gar Unprätentiöses, Stilles und unaufdringlich Dokumentarisches. Andererseits sind sie mit soviel Raffinesse und Könnerschaft — was die Linienführung und die oft fast malerische Komposition angeht—, aber auch mit soviel scharfer Beobachtungs- und Hingabe ausgestattet, das man meinen könnte, man hätte die eben (fotografiert) gesehenen Orte gerade selbst erst verlassen. Die Fotografien, die Bartels von der Vorstadt Berlins macht, haben dabei etwas Rührendes und Sentimentales: sie geben alles her, was zu sehen ist — und schweigen doch untrüglich.

Eines der eigenartigsten Fotos ist mir das Titelbild, daß im Bildteil noch einmal auftaucht. Das Foto zeigt den aus dem Stadtraum vollständig getilgten Spittelmarkt. Es mutet unheimlich und unwirklich zugleich an — es birgt den Alltag, und doch auch den unsichtbaren Schrecken. Es wirkt wie eine Kulisse, dann wieder wie ein Modell, schließlich wie die ungekonnte, schlechte Fotomontage eines, der bei der Bewältigung der Größenverhältnisse schlichtweg versagt hat: Straßenbahn, Gertraudenkirche und Mietshaus stehen in einem so erbärmlich anmutigen Verhältnis zueinander, daß man in das Kirchlein gehen möchte, um für diesen Versager ein Gebet zu sprechen.

Der Fotoband streift durch städtisches und vorstädtisches Gelände. Er bietet Blicke auf Häuser, die nicht mehr stehen, Stadtzusammenhänge, die fortgewischt sind und auf Architekturen im Abbruch oder im Bau. Überhaupt hat man beim Blick auf viele Fotografien den Eindruck, daß in dieser Stadt eigentlich immer nur gebaut wurde — so, wie wir es in den nächsten zwei Jahrzehnten wohl auch wieder vor uns haben werden. Die Stille und Ruhe, die uns trotz aller Bauerei der Fotoband von Berlin vermittelt, ist aber wohl hauptsächlich der Abwesenheit des Automobils geschuldet. Und für diesen Moloch Auto werden wir noch mal teuer bezahlen: abgesehen von den Kosten für die Tunnel- und Straßenbauten, geht uns durch das Auto auch eine Möglichkeit des Blickes auf unsere Stadt unwiderbringlich verloren: das Straßenbild ist schlicht und einfach verdorben durch all diese buntscheckigen Blechkarossen (alle Autos eine Farbe!: was hätte allein diese Maßnahme für eine beruhigende Wirkung auf unser von optischer Reizüberflutung gebeuteltes Stadthirn!).

Wieder einmal ist es das Märkische Museum, das aus seinen Schätzen eine Auswahl von Fotografien zusammenstellen ließ. Und wieder einmal ist uns die Möglichkeit in die Hand gegeben, uns wohlfeil und neugierig auf die Suche nach den verborgenen Bugspitzen der zum Teil schon zerstörten Stadt zu machen. Martin Kieren

Georg Bartels: Das Berlin der Jahrhundertwende Fotografien aus den Jahren 1886 bis 1907, ausgewählt und zusammengestellt von Hela Zettler und Jost Hansen, Edition Märkisches Museum, 120 Seiten, 21 Abb. im Textteil, 80 Abb. im Tafelteil, Verlag Dirk Nishen, Berlin/ London 1991, DM 68.