Marco: Seit drei Jahren ums Leben betrogen

■ Immer mehr Kinder landen in Berlin im Heim/ Die Ursachen sind vielfältig, aber die Leidtragenden sind immer die wehrlosen Kinder/ Besonders in Ost-Berlin steigt in den Heimen die Zahl der Kleinstkinder als Opfer der Wende

Berlin. Bundesrepublikanische Heimwirklichkeit 1968: »Säuglingsheime, Kleinkinderheime, Schulkinderheime, Lehrlingsheime. Heimkinder, die ohnehin in Angst und Unsicherheiten leben, werden mit Heimwechseln traktiert, das heißt Wechsel der Freunde, der Erziehungspersonen, der gewohnten Umgebung. Ein pädagogischer Wahnsinn — jedermann weiß es, aber man ändert es nicht, es fehlt nicht an Einsicht, es fehlt an Geld und Entschlossenheit.«

Viel hat sich getan, seitdem Ulrike Meinhof in einer 'konkret‘-Kolumne 1968 den Prozeß Jürgen Bartschs kommentierte, der nach einer ebenso klassischen wie grausamen Heimkarriere im Alter von 13 bis 16 Jahren vier Jungen bestialisch ermordete. Doch noch immer ist eine Heimunterbringung für die meisten Kinder eine furchtbare Erfahrung — je jünger, desto schlimmer.

Gerade an den Säuglingsheimen ist die Heimkampagne der siebziger Jahre, in deren Zuge Geschwistergruppen und Altersmischung sowie Mitbestimmung in den meisten Heimen eingeführt wurde, weitgehend vorübergegangen. Eigentlich wollte man sie ganz abschaffen und durch Pflegefamilien ersetzen — das wiederum hat bis heute nicht geklappt. Säuglinge, abgeschoben, ausgesetzt, vernachlässigt, mißhandelt, verwahrlost oder alkoholgeschädigt, für die keine Familie gefunden werden, bleiben eine traurige Realität.

Achthundert Kinder bis zu sechs Jahren lebten im vergangenen Jahr in Berlin im Heim, zwei Drittel von ihnen in Ost-Berlin. In der DDR war ein Pflegeverhältnis so gut wie unbekannt, der Heimaufenthalt oder die Adoption hingegen üblich. Auch die jetzigen Debatten um Zwangsadoption täten ihr übriges, die Suche nach Pflegefamilien zu erschweren, berichten die Jugendamtsmitarbeiterinnen.

Inmitten von Plattenbauten sind in Berlin-Mitte 24 Kinder unter sechs Jahren in einem Kleinkinderheim untergebracht. Zu DDR-Zeiten waren es über 50. Das jüngste der Heimkinder ist keine zwei Monate alt. Mit acht anderen Kleinstkindern schläft der Kleine in einem Raum. Die größeren sind in Sechs-Bett-Zimmern untergebracht. Dafür sind die Spielzimmer größer und geräumiger. Um acht Kinder kümmern sich wie überall in Berlin statistisch 4,6 Erzieherinnen; verteilt auf die Woche mit seinem Schichtdienst bedeutet dies, das jeweils nur eine Person anwesend ist. An eine konstante Bezugsperson, die gerade kleine Kinder so dringend brauchen, ist bei dem Personalschlüssel nicht zu denken.

Der dreijährige Marco lebt schon seit zweieinhalb Jahren im Heim. Dabei soll die Verweildauer laut Gesetz nicht länger als sechs Monate sein. Aber Marco »ist irgendwie der Wende zum Opfer gefallen«, erzählt die Heimleiterin. Die Verunsicherung unter den Jugendamtsmitarbeitern im Ostteil ist groß. Was dürfen sie, was nicht? Mit einem halben Jahr wurde Marco schwer vernachlässigt von der Familienfürsorge ins Heimn gebracht. Immer wieder beteuerte die Mutter daraufhin, sich zu bessern und ihr Kind zu sich zu nehmen. Mal besserte sie sich für ein paar Wochen, mal nicht, begann eine Therapie, brach sie wieder ab. Jetzt ist sie seit einem Jahr verschwunden. Mit etwas Glück kommt Marco nun in eine Pflegefamilie.

»Das Kinder- und Jugendhilfegesetz ist sehr elternorientiert«, sagt auch Cornelia Schiemann. Sie bildet Pflegeeltern fort. Immer wieder werde von den Gerichten und der Familienfürsorge diese oder jene Therapie abgewartet, bis eine endgültige Entscheidung über den Verbleib des Kindes erfolge. Die unverbindlichste Lösung für diese Übergangszeit ist das Kinderheim. Haben Kinder Zeit zu warten?

Insgesamt 6.000 Kinder leben in Berlin im Heim; 4.000 weitere sind in Pflegefamilien untergebracht. Pflegeeltern sind schwer zu finden. In völlig ungeklärten Situationen nehmen sie ein Kind zu sich, ohne zu wissen, wie lange es bleiben wird. Die meisten Kinder sind hochgradig verstört, bindungsunfähig und in ihrer Entwicklung zurückgeblieben. Ist ein Kind nach den oft traumatischen Erfahrungen in der Herkunftsfamilie längere Zeit im Heim, wird es immer schwieriger, es in eine Familie zu integrieren, beobachtet Christa Möhler von der Heimaufsicht in der Senatsjugendverwaltung. »Viele werden Drehtürkinder. Sie kommen immer wieder.«

»Wenn sie ungezogen werden, ist die schlimmste Phase vorbei«, erzählt Kurzpflegemutter Barbara Wienand, die in den vergangenen sieben Jahren 28 Kinder betreut hat — oft drei gleichzeitig. Keins der Kinder hätte altersgemäß gesprochen, erzählt sie. »Viele waren in einem furchtbaren Zustand.« Wenn die Kinder kommen, weiß die neue Mutter nichts über sie — keine Eß-, keine Schlafgewohnheiten, wenig über ihre Herkunft. Auch die Mitarbeiter der Familienfürsorge würden die Kinder oft nur abliefern, beschwert sie sich.

So geht der Spielball von einem zum nächsten. Die Familienfürsorge ist kolossal überlastet. In Neukölln kümmern sich seit einer erneuten Umstrukturierung statt sieben noch drei SozialarbeiterInnen um 500 Pflegefamilien. Auch die Honorierung der Pflegetätigkeit ist vernachlässigenswert: 85 Prozent der Pflegeeltern erhalten ganze 100 Mark im Monat als Erziehungsgeld. Würde man den Satz wesentlich heraufsetzen, fürchten viele, würde Pflege zum Geschäft und Kinder zur Einnahmequelle.

Adoptiveltern zu finden ist hingegen kein Problem — wen wundert's? Ihnen wird das Kind rechtlich als ihr eigenes übertragen, der jahrelange Kontakt mit den Ämtern fällt ebenso weg wie die ewigen Auseinandersetzungen mit der Herkunftsfamilie. Als oberstes Gebot geht das Kinder- und Jugendhilfegesetz hingegen bei Pflege- und Heimkindern von einer Rückkehr in die Herkunftsfamilie aus. Diese scheitert jedoch oft an der mangelnden Elternarbeit.

»Wir hinken in Berlin mit Angeboten, die den Bedürfnissen der Kinder entsprechen, hinterher«, sagt Möhler. Sie fordert, das Geld, das durch den Abbau von 200 Säuglingsheimplätzen in Ost-Berlin gespart wurde, in die qualitative Verbesserung der Heime zu stecken. So könnten Mutter-Kind-Gruppen ausgebaut werden, in denen Mütter und Kinder gemeinsam wohnen und betreut werden. Jeannette Goddar