DEBATTE
: „Servus 175“

■ Die Epoche strafrechtlicher Sonderbehandlung, die die gesellschaftliche Situation der Schwulen über ein Jahrhundert prägte, geht zu Ende

Endzeit für den Paragraphen 175. Morgen führt der Bundesratsausschuß für Frauen und Jugend eine Anhörung zum Sexualstrafrecht durch. Anlaß ist ein Antrag Hamburgs zur ersatzlosen Streichung der Paragraphen 175 und 182 (Verführung von Mädchen) StGB. Diskutiert wird auch Justizminister Klaus Kinkels Alternativvorschlag einer einheitlichen Jugendschutzvorschrift. Fragenkatalog und Sachverständigenliste machen deutlich: Immer noch treibt PolitikerInnen beim Paragraphen 175 vor allem der Jugendschutz um. Auch die rot- grünen Länder haben die Chance verpaßt, die Anhörung als schwulenpolitischen Aschermittwoch über die Lebenssituation der homosexuellen Minderheit zu nutzen.

Die Streichung des Paragraphen 175 StGB ist aber keine Frage des Jugendschutzes, sondern eine der Demokratie. Doch selbst im taz-Hintergrund vom 19.2. 1992 entschwand über ausführlicher Detailkritik das eigentlich Zentrale aus dem Blickfeld: Das Ende der Epoche nämlich, in der die strafrechtliche Sonderbehandlung die gesellschaftliche Situation der Schwulen prägte.

Kinkels Vorgehen ist Koalitionsarithmetik

Als Bündnis90/Grüne nach Vorschlägen des SVD (damals noch Schwulenverband in der DDR) mit einem erfolgreichen Antrag in der letzten Volkskammer die bloße Oktroyierung des Paragraphen 175 auf die neuen Länder verhinderten, war man sich in der Schwulenbewegung noch einig, diese Chance zur Gleichstellung zu nutzen: Gemeinsam sammelten der SVD und der Kölner Bundesverband Homosexualität (BVH) Unterschriften für die Forderung an die Regierungen in Bonn und Ost- Berlin, „sich bei der Rechtsangleichung zwischen DDR und BRD für die ersatzlose Streichung des Paragraphen 175 StGB oder die Übernahme der DDR-Regelungen in gesamtdeutsches Recht einzusetzen“.

Letzteres wurde 1990 Koalitionsvereinbarung: „einheitliche Schutzvorschrift“ mit der Altersgrenze von 16 Jahren. Jetzt will der BVH von seinen damaligen Forderungen nichts mehr wissen. Überrascht vom Erfolg, kann man mit dem nicht umgehen. Bequeme Opferidentitäten geraten ins Wanken, so daß man die Erfüllung der eigenen Förderung in einen besonders perfiden Repressionsakt umdeuten muß.

Man behauptet ernsthaft, „plötzlich findet wieder Moral Eingang in das Sexualstrafrecht“, als wenn die dort nicht schon immer ihr Unwesen getrieben hätte. Völlig verkannt wird dagegen der Charakter des Kinkel- Vorschlages. Der hat wenig mit Moral oder finsterer Repressionsabsicht zu tun, sondern ist schlichtes Ergebnis der Koalitionsarithmetik: Ein wenig Lorbeer für die FDP, ein wenig Rücksicht auf die CSU, so wurde der Entwurf ausgewürfelt. Heraus kam einer der üblichen faulen Kompromisse, nicht weniger, aber eben auch nicht mehr.

Bitte keinen Repressionspopanz

Der Preis der Reform ist hoch, meinten AutorInnen in der taz aus einseitigem Alt-BRD-Blickwinkel. Übersehen wird jedoch: Gegenüber den unklaren Formulierungen des DDR- Rechts bedeutet die Regierungsvorlage tendenziell eine Liberalisierung. Im Entwurf heißt es: „Ein Erwachsener, der eine Person unter sechzehn Jahren dadurch mißbraucht, daß er unter Ausnutzung ihrer Unreife oder Unerfahrenheit sexuelle Handlungen an ihr vornimmt oder von ihr an sich vornehmen läßt, wird mit Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ Strafverfolgung erfolgt nur auf Antrag der Eltern oder bei „öffentlichem Interesse“ auch von Amts wegen. Kurzum: Für westdeutsche Schwule erfolgt eine weitgehende Entkriminalisierung, bei Verkehr zwischen erwachsenen Männern und Mädchen eine geringfügige Verschärfung. Erstmals strafbar werden heterosexuelle und lesbische Handlungen erwachsener Frauen mit Jugendlichen zwischen 14 und 16 Jahren.

Ohne Zweifel, gerade die Einbeziehung der Lesben gibt der anstehenden Reform einen bitteren Beigeschmack. Aber was wird in der Realität geschehen? Bei den jetzigen Kinder- und Jugendschutzbestimmungen der Paragraphen 174 und 176 StGB tendiert der Anteil verurteilter Lesben gegen Null. Es gibt hier offensichtlich weder nennenswerte Straftaten noch gesellschaftliche Strafbedürfnisse. Warum sollte das nun anders werden? Besteht eine gezielte Kriminalisierungsabsicht gegenüber Lesben?

Frauen sind nicht mehr sexuell passiv

Ihre Einbeziehung ist doch wohl eher Ausfluß einer neuen Einstellung zur weiblichen Sexualität. 1957 hatte das Bundesverfassungsgericht mit kruden sexistischen Argumenten die Strafbarkeit von Lesben bei Paragraph 175 verneint, da die Herren in den roten Roben weibliche Sexualität weder ernst nehmen noch Frauen einen eigenständigen sexuellen Willen zugestehen wollten. Das Aufbrechen der tradierten Geschlechterrollen zeigt seine Ambivalenzen: Frauen werden nicht mehr als sexuell passive Wesen betrachtet, mann traut ihnen auch Sexualdelikte zu.

Warum macht in manchen Schwulengruppen die Rede von der Strafverschärfung die Runde? In selbstgewählter Isolation im vorpolitischen Raum agierend, fehlen Erfahrungen mit der Dialektik politischer Prozesse, mit Teilerfolgen und Kompromissen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Interessen. Hätten nicht einige Schwulenorganisationen pragmatisch den von der Koalitionsvereinbarung gesetzten Handlungsspielraum genutzt, wären nicht einmal die beiden wesentlichen Verbesserungen gegenüber einem früheren Diskussionsvorschlag des Justizministeriums durchgesetzt worden: Auf die Hausnummer 175, Symbol von 120 Jahren Homosexuellenhatz, wird jetzt verzichtet. Außerdem ist die Vorschrift kein reines Offizialdelikt mehr. Damit dürfte nach aller Erfahrung Strafverfolgung mangels Anzeigen selten sein, denn in der Gesellschaft gibt es weitaus weniger Strafbedürfnis als in den Strafverfolgungsbehörden.

Gleichberechtigung ist entscheidend

Anders als bei den anderen Reformen des Paragraphen 175 (in den Jahren 1969 und 73) konnten diesmal Schwule bereits als politische Subjekte Einfluß nehmen. Der Koalitionskompromiß muß aber weiter entschärft werden, da sich für die „ersatzlose Streichung“ im Bundestag keine relevante politische Kraft findet. Trotzdem bleibt richtig: Alles außer der ersatzlosen Streichung der Paragraphen 175 und 182 StGB ist einfach Quark. Blödsinnig ist es aber auch, einen billigen Repressionspopanz aufzubauen und das gesellschaftlich Entscheidende damit zu entwerten: In der zwölften Wahlperiode des Bundestages verschwindet die strafrechtliche Kategorie Homosexualität.

Ganz andere Fragen als die kommende Jugendschutzvorschrift werden die Lebenssituation der homosexuellen Minderheit beeinflussen: Gleichbehandlungsgarantie in der Verfassung, ein Antidiskriminierungsgesetz, die Gleichberechtigung homosexueller Paare und die Absicherung der Aids- und Anti-Gewalt- Arbeit. Angesichts der vor uns liegenden Aufgaben können wir uns leicht von der Altlast trennen. Mit einem fidelen „Servus 175“ auf den Lippen geht es auf zu anderen Ufern! Volker Beck, Günter Dworek

Die Autoren sind Sprecher des Schwulenverbandes in Deutschland (SVD).